Christian Schachinger

Wien - Rock 'n' Roll ist jene Kunstform, die mit Religion am meisten gemeinsam hat. Das bedeutet: Glauben macht selig. Und: Denken ist die Geburt des Zweifels. Zweifel aber ist der Tod des Glaubens.

Soll heißen, bloß nicht zur Bühne hinsehen, wo Mick Jagger gerade verzweifelt und ein wenig sehr böse auf seine Kollegen Charlie Watts, Ron Wood und Keith Richards versucht, den heute sehr arg verhunzten Wunderkerzenhadern Angie mit übertriebenem Betroffenheitsgekaspere zu retten. Hinter ihm fallen nach über 40 Jahren im Geschäft die Rolling Stones als Band also doch noch auseinander. Da ist kein Leben mehr drin. Tote Augen, müde Gesichter. Zirkusgäule kennen kein Gnadenbrot. You Can't Always Get What You Want nicht als Durchhaltehymne, sondern als Trauermarsch.

Die waren aber einmal gut! Die waren fantastisch! Deshalb auch: Nicht hinhören! Falsche Schlagzeugeinsätze, lieblose Solos, erheblich gedrosseltes Tempo, keinerlei Dynamik. Bei Sympathy For The Devil kommt die Musik möglicherweise nicht nur von der Band, sondern auch vom Band. Laut vielfach kolportierter Meinung ist diese Tournee die von der künstlerischen Qualität her beste seit Jahren.

Bloß nicht den Glauben verlieren! Ich glaube, es wird mit zunehmender Konzertdauer besser. Ich glaube, so ab dem 13. Song. Da spielen sie mitten im Publikum drei Songs wie früher auf kleiner Bühne. I Just Want To Make Love To You von Willie Dixon, Street Fighting Man und Midnight Rambler. Alle drei in bedenklich windschiefen Versionen. Egal. Ich glaube, am Schluss vor den Zugaben sollen sie dann wirklich gut sein. Jeder braucht einmal eineinhalb Stunden, bis er sich halbwegs warmgespielt hat. Gut, die Zugabe selbst jedenfalls soll wirklich super sein . . . Hey, bitte, das da oben waren einmal die Rolling Stones!

Wenn es kein Vorwärts gibt, hilft vielleicht die Rückschau: Die Rolling Stones stehen historisch gesehen seit 40 Jahren an zweiter Stelle nach der Grundsatzdebatte, ob Elvis 1958 mit der Ableistung seines Wehrdienstes nicht ein wenig zu saugen begonnen hat, wie man im Englischen sagt. Danach kam gleich der große Kirchenstreit Beatles versus Rolling Stones. Und an dieser bis heute gültigen Frage aller Fragen im Rock 'n' Roll kann man noch immer die Spreu vom Weizen trennen.

Kein Pfingstwunder

Jetzt wird es etwas kompliziert, aber nur ein bisschen: Böse bedeutet bei den schlechten Kerlen gut. Und das Gute führt bei den Guten nur zu Sonntagspredigten wie All You Need Is Love, nicht aber zum groben Spaß mit den Honky-Tonk-Frauen. Bei uns älter gewordenen Anhängern der Theorie von gesellschaftlicher Befreiung durch individuelle Enthemmung gilt es daher als selbstverständliches Muss, auf der Seite des Bösen bei den Rolling Stones zu stehen und die Sau raus zu lassen. Und immer wieder ge- hen wir zu den Konzerten. Auch wenn hier längst keine Pfingstwunder mehr zu erwarten sind.

Die Stones standen einmal wegen auch heute rituell abgespielter Golden Oldies für eine kulturelle Revolution, die den ganzen braunen Nachkriegsmief mit der frohen Botschaft von Sex & Drugs & Rock 'n' Roll mit einigen wenigen Riffs auf der Gitarre und ein wenig Angeber-Billard in der Hosentasche einfach so wegputzte. Satisfaction, Jumping Jack Flash, It's Only Rock 'n' Roll und all das.

Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen, aber: Danach war nichts mehr, wie es war. Und obwohl sich einige in unserer Gesellschaft sehr darum bemühen - in eine Zeit vor den Stones bringt man die Leute nicht mehr zurück. Gott, Teufel, der Firma Olla und Mick Jagger sei Dank.

Die entscheidende Leistung der Rolling Stones mag zwar mindestens 30 Jahre zurückliegen. Aber dankbar muss man ihnen noch heute dafür sein. Womit wir wieder beim Glauben wären. Glauben heißt auch Hoffen. Dafür ist das Ernst-Happel-Stadion nur wenig geeignet.

Es hilft nichts. Entgegen aller vorauseilenden Jubelartikel sind die Stones über die Jahre rein spieltechnisch betrachtet immer noch schlechter, gelangweilter und verschlampter geworden. Von Spielfreude ist sowieso keine Rede mehr. Brown Sugar, Start Me Up und die bedenklich-uninspirierten, neueren Songs You Got Me Rocking sowie Don't Stop bekommen 60.000, friedlich um T-Shirt- und T-Mobile-Buden grasende Fans im Stadion gleich am Anfang als indifferente, lauwarme Brühe serviert. Das mag als Urteil hart sein, aber niemand hat behauptet, dass man es sich in seinem Glauben gemütlich einrichten kann. Siehe auch: Bob Dylan.

Das führt dazu, dass Keith Richards hier in Wien gleich fast gar nicht mehr Gitarre spielt und sich auf seine seit Jahr und Tag längst wesentliche Rolle bei den Stones beschränkt: Glauben entsteht vor allem auch aus der Angst vor dem Tod. Und weil Keith Richards jeden Abend wie auch immer und vor allem noch immer auf einer Bühne in dieser Welt steht, muss und wird es auch für uns weitergehen. Unbelehrbare Pilger, die wir immer wieder zu ihm kommen, um seiner leibhaftig ansichtig zu werden.

Leben als Überleben

Selbst wenn bei seinem Solopart im Mittelteil des Konzerts Richards ein wegen seiner Kaputtheit tatsächlich erschütterndes Thru and Thru winselt und dann Before They Make Me Run: Dass hier jemand trotz all des vielen Lebens, das er gehabt hat, zumindest für zwei Stunden am Tag dafür einsteht, dass Altwerden auch Jungbleiben bedeuten kann und Leben und Überleben oft dasselbe sind, das gibt ein wenig Trost. Ratlos ist man aber nach 20 Songs auch. Wie soll das alles weitergehen? Diese Tournee soll nicht die letzte der Stones gewesen sein.