"Meine Katze Pindar schätzt das Leben genauso wie ich. Der Wert eines Lebens steigt meiner Meinung nach nicht, nur weil einer von uns beiden konzeptuell über das Leben nachdenken kann", meint Tierethiker Gary Steiner über sein Haustier.

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Weltweit werden mehr als 66 Milliarden Tiere pro Jahr allein für den Fleischverzehr geschlachtet. Philosoph und Tierethiker Gary Steiner führt das auf den Anthropozentrismus zurück, jene Idee der Philosophen des antiken Griechenland und der christlichen Tradition, wonach der Mensch allen anderen Lebewesen überlegen ist und daher im Zentrum der Welt steht. Im Interview mit derStandard.at berichtet Steiner über Tierrechtskampagnen, die das schlechte Gewissen besänftigen sollen, unsere moralische Schizophrenie, nach der wir Tiere in Haustiere und Essen einteilen, und die philosophischen Strömungen, die dem zugrunde liegen.

derStandard.at: Mehr als eine Million Menschen haben bis Ende 2011 die "8hours"-Kampagne in Europa unterstützt. Demnach dürfen Nutztiere nur noch acht Stunden bis zu ihrer Schlachtung transportiert werden. Ist das in Ihren Augen ein großer Erfolg oder nur ein erster Schritt?

Steiner: Angesichts der Tatsache, dass diese eine Million Menschen, die die Kampagne unterstützt haben, wohl sorgfältig über die Art nachgedacht haben, wie wir Nutztiere behandeln, kann die Kampagne wohl als Fortschritt im Interesse der Tiere angesehen werden. Aber man kann solche Kampagnen auch anders betrachten: nämlich dass sie den Menschen einfach ein besseres Gefühl über Transport und Nutzung von Tieren verschaffen. 

In meiner Heimat Kalifornien wurde zum Beispiel im November 2008 ein Gesetz verabschiedet, durch das Hühnern mehr Platz zugestanden wird und das noch andere Auflagen beinhaltet, um deren Haltung zu verbessern. Solche Maßnahmen setzen nicht beim Kern des Problems an, bei der Frage der moralischen Zulässigkeit dessen, Tiere zu töten. Üblicherweise werfen solche Maßnahmen diese Frage nicht auf, da sie vielen Menschen unangenehm ist und sie sich nicht damit auseinandersetzen wollen.

derStandard.at: Das ist ein wiederkehrendes Thema in Ihrer Arbeit. Welche Typen von Menschen unterscheiden Sie, die sich für die Verbesserung der Situation der Nutztiere einsetzen?

Steiner: Die sogenannten "Welfarists" glauben, dass es prinzipiell ethisch unbedenklich ist, Tiere für den Fleischgewinn zu töten, an ihnen zu experimentieren oder sie zur Unterhaltung in Gefangenschaft zu halten. Sie plädieren jedoch dafür, die für diese Zwecke verwendeten Tiere menschenwürdig zu behandeln. Die "8hours"-Kamapgne ist in diesem Sinne eine Initiative der "Welfarists". Sie bezweifeln nicht, dass Menschen berechtigt sind, Tiere zu unterjochen.

"Abolitionists" fechten hingegen die den "Welfarists" zugrunde liegende Annahme an, dass Menschen das Recht haben, Tiere zu nutzen. Sie argumentieren, dass es moralisch inakzeptabel ist. Sie geben sich nicht damit zufrieden, zum Beispiel Hühnern mehr Raum in der Gefangenschaft zuzugestehen. Sie fordern, dass Tiere nicht mehr für Fleisch oder Kleidung getötet werden dürfen und dass Tierversuche, Zirkusse und Zoos abgeschafft gehören.

Der Ansatz des "Welfarism" ist natürlich viel beliebter, da er den Menschen weniger abverlangt. Diese Menschen müssen sich nicht mit dem offensichtlichen Gegensatz beschäftigen, dass sich eine "humane" Behandlung von Nutztieren und deren Tötung widersprechen.

derStandard.at: Sie haben sich mit dem Verhältnis von Menschen zu Tieren durch die Jahrhunderte beschäftigt. Gibt es da einen roten Faden?

Steiner: Ich denke, der rote Faden in meiner Arbeit zu Tieren ist der Anthropozentrismus, also die Neigung der Menschen, sich als Zentrum und wichtigstes Lebewesen der Welt zu betrachten. Anthropozentrische Ansätze reichen bis zu Aristoteles und den Stoikern zurück, die glaubten, dass Menschen gottgleiche Lebewesen sind und wir daher das Vorrecht haben, alles in der Natur zu nutzen, um unsere Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen.

Diese Einstellung liegt auch der christlichen Tradition und den Schriften modernerer Philosophen wie Descartes und Kant zugrunde. Es gab ein paar skeptische Ausnahmen unter den Philosophen wie Plutarch, Porphyrios oder Schopenhauer. Doch keiner dieser Denker hat eine klare und einheitliche Ethik entwickelt, die die Rechte von Tieren bestärkt, nicht getötet oder anderweitig vom Menschen genutzt zu werden.

In der zeitgenössischen Philosophie ist der US-amerikanische Rechtswissenschaftler Gary Francione bisher der Einzige, der so eine Ethik entwickelt hat. Eine solche Ethik hinterfragt das lange Zeit bestehende Urteil, dass Menschen moralisch höher stehen als nichtmenschliche Tiere.

derStandard.at: Traditionell gesehen haben westliche Philosophen damit argumentiert, dass sich Tiere selbst nicht als Individuen sehen. Und viele Menschen rechtfertigen die Fleischindustrie oder Tierversuche damit, dass "die Tiere gar nicht realisieren, was mit ihnen geschieht". In Ihrem Buch "Animals and the Moral Community" widersprechen Sie diesen Vostellungen vehement. Mit welcher Begründung?

Steiner: Dem anthropozentrischen Weltbild liegt die Idee zugrunde, dass Menschen besonders und einzigartig sind. Im Englischen wird dieser Glaube "exceptionalism" genannt. Philosophen haben immer wieder versucht, diese Eigenschaften, die den Menschen einzigartig und den nichtmenschlichen Lebewesen überlegen machen, herauszuarbeiten. Viele Philosophen glauben zum Beispiel, dass der Gebrauch von Werkzeugen oder die Fähigkeit, an einen Gott zu glauben, uns von Tieren abhebt. Auf die eine oder andere Weise reflektiert das die Annahme von Aristoteles und den Stoikern, dass nur Menschen rationale und sprachliche Lebewesen sind.

Neuere Studien über Tiere zeigen jedoch, dass sie eine Vielzahl an ausgeklügelten geistigen Fähigkeiten besitzen, vor allem was Kommunikation und Problemlösungen betrifft. Philosophen wie Aristoteles haben diese Fähigkeiten der Tiere zwar erkannt, aber trotzdem die Ansicht aufrechterhalten, dass Tiere minderwertiger sind.

Sogar der englische Philosoph Jeremy Bentham (1748-1832, Anm.), der den moralischen Diskurs über Tiere änderte, indem er sich auf ihre Fähigkeit zum Leiden konzentrierte, argumentierte, dass der Tod für Tiere weniger tragisch sei: Sie hätten nämlich nicht die Möglichkeit, ihre Zukunft abstrakt zu begreifen und weit vorauszuplanen. Ich halte diese Argumentation für außergewöhnlich anthropozentrisch und egoistisch.

Denn auch kleine Kinder oder geistig beeinträchtigte Menschen sind zu dieser Art von längerfristiger Zukunftsplanung nicht in der Lage. Dennoch nehmen wir das nicht zum Anlass zu glauben, dass ein Kind nichts verliert, wenn es stirbt. Des weiteren bin ich der Meinung, dass alle Menschen, die der Annahme sind, dass Tiere im Schlachthaus nicht wissen, was ihnen passiert, sich ein Video davon ansehen sollten. Tiere, die zur Schlachtbank geführt werden, wissen sehr wohl, was gerade passiert.

Oder, wie ich in meinem Buch "Animals and the Moral Community" argumentiert habe: Meine Katze Pindar schätzt das Leben genauso wie ich. Der Wert eines Lebens steigt meiner Meinung nach nicht, nur weil einer von uns beiden konzeptuell über das Leben nachdenken kann.

derStandard.at: Stichwort Katze: Viele Menschen zelebrieren eine sehr innige Beziehung zu ihren Haustieren. Warum ist das eine Tier ein geliebter Gefährte, und das andere wird für sein Fleisch geschlachtet?

Steiner: Es ist schon interessant zu beobachten, wie wir Menschen, die wir uns anderen Wesen gegenüber wegen unserer Rationalität überlegen fühlen, so inkonsequent bei unseren Werten und Handlungen sind. Gary Francione, den ich vorher schon erwähnt habe, spricht in diesem Zusammenhang von einer "moralischen Schizophrenie".

Ich denke, der Schlüssel, um diese Ambivalenz zu verstehen, liegt darin, dass viele Menschen ihre Haustiere nicht aus rein "moralischen" Gründen lieben. Stattdessen verschafft es ihnen Vergnügen und Wohlbehagen, mit einem Tier zu leben, ebenso wie Fleisch zu essen. Genauso wie bei unseren Beziehungen mit anderen Menschen neigen wir auch in unserer Beziehung zu Tieren dazu, egoistisch zu bleiben. (Julia Schilly, derStandard.at, 10.5.2012)