Wenn Richard Hawley im Zusammenhang mit seiner Musik von "Mehr" gesprochen hat, bedeutete das bisher meist eine Reduktion. Weniger Noten, weniger Text - dafür Raum, in dem sich das wenige wirkmächtig entfalten konnten. Dieses Spiel mit Auslassungen, gepaart mit einem Wesen, das sich in wenig attraktiven Gegenden wenig glamouröser Städte wie Sheffield, seiner Heimat, am wohlsten fühlt, verliehen ihm die Aura eines coolen Underdogs. Sogar als Crooner wurde er gehandelt, dabei hat Hawleys Gesang wenig mit den Klassikern des Fachs zu tun, erinnert weder an Frankie noch an Dino.
Nun meint Richard Hawley mit "Mehr" tatsächlich mehr. Auf seinem jetzt erschienenen Album Standing At The Sky's Edge trägt er auf. Wo er früher abgemagerten Rockabilly auf halber Geschwindigkeit in Richtung der Roy-Orbison-Gedenkstätte transportiert hatte, greift er jetzt wuchtig in die Saiten.
Standing At The Sky's Edge ist ein Gitarrenrockalbum. Bei Hawley bedeutet das zwar keinen eitlen Gitarrensex, aber doch rockistischen Mauerbau, mitunter turmhoch. Dazu erzählt er mit dieser charakteristischen Schwere, mit der er sich den Crooner-Verdacht eingehandelt hat. Dabei ist es nur eine Maulfaulheit, die Bands wie The Jesus & Mary Chain schon vor 25 Jahren kultiviert haben. Ja, ein Lied wie der Opener könnte dann auch tatsächlich von den Reid-Brüdern sein. Doch selbst wenn Hawley rockt, wirken seine Songs wie eloquente Kurzgeschichten, besitzen eine detailverliebte Chronologie, spielen in ihrer Anordnung mit dem Format Langspielplatte.
Die neue Heftigkeit ist Hawleys Wut geschuldet. Als Wertkonservativer beklagt er sich über das Verschwinden ihm liebgewordener Alltäglichkeiten. Gierige Neureiche kaufen Häuser, die Hawleys Lieblingslokale beheimaten, die Politik ist korrupter denn je, alles Stoff, der die britische Popmusik seit der Thatcher-Ära beschäftigt hat. Gleichzeitig Themen, über die der Mann mit der sich ausdünnenden Elvis-Tolle in seinem Lieblings-Pub redet, trinkt und zum Broterwerb singt.
Doch in seinen Zorn schleicht sich bald jene Zärtlichkeit, die ihn überkommt, wenn die Nostalgie Platz begehrt. Dazu muss man sich in Erinnerung rufen, dass nur Menschen mit großen Herzen richtig wütend werden können. Über diesen Umweg erweist sich Hawley wieder als großer Romantiker, von dem Sätze wie dieser überliefert sind: "Ich möchte jedes Mal applaudieren, wenn meine Frau einen Raum betritt. Das ist wie eine Offenbarung." She Brings The Sunlight ist demnach Madame Hawley zugedacht.
Der beste Song gibt dem Album seinen Titel: Standing At The Sky's Edge. Sky's Edge heißt ein bis heute schlecht beleumundetes Viertel von Sheffield, in dem früher der Messerkampf zur Folklore gehört haben soll. In diesem Lied verbindet Hawley die Qualität seiner ruhigeren Alben mit heftigeren Eruptionen zu einer süffigen Mischung. Das Lied erinnert an Songs der Band Elbow, für die Hawley als "hired gun" Gitarre gespielt hat. Es wirkt wie ein nächtlicher Spaziergang durch schlecht beleuchtete Gassen, der mit einer dominanten Percussion zum frühen Höhepunkt des Albums gerät.
Trotz aktueller Thematik fügt sich Richard Hawleys siebentes Album harmonisch in sein Gesamtwerk, das abseits von Trends in der Zeitlosigkeit erstrahlt und gleichzeitig kaum aus der Dunkelheit tritt. (Karl Fluch, Rondo, DER STANDARD, 11.5.2012)