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"Lanze für Österreich", eingebettet in ein flammendes Plädoyer für Europa: Paul Lendvai bei seiner Festrede.

Foto: Ronald Zak/dapd

Gerade im Hinblick auf unseren Nachbarn, auf meine (alte) Heimat Ungarn, wo im politischen Diskurs der Hass regiert, wo 67 Jahre nach dem Zusammenbruch Hitler-Deutschlands Judenhass in radikal-nationalistischen Kreisen als Kavaliersdelikt betrachtet wird, ist es für mich ein Bedürfnis, an dieser Stelle für die österreichische politische und kulturelle Elite, trotz aller sattsam bekannten und diskutierten Schattenseiten, eine Lanze zu brechen.

Der Kompromiss, schrieb der bedeutende deutsche Soziologe Georg Simmel, sei "eine der größten Erfindungen der Menschheit", denn er bildet die Grundlage der Demokratie. Die Idee, keiner könne seine Interessen ganz durchsetzen, jeder müsse Abstriche zugunsten des anderen machen, sorgt in der Tat für den gewaltfreien Ausgleich der Interessen und damit für ein annähernd gerechtes friedliches Zusammenleben. Die Bereitschaft zum Kompromiss war die verbindende Brücke zwischen den Gründungsvätern der Zweiten Republik.

Als Financial Times-Korrespondent hatte ich zum Beispiel auch die damals erbitterten politischen Gegner, den ÖVP-Generalsekretär Hermann Withalm und den SPÖ-Klubobmann Bruno Pittermann, gekannt und beide geschätzt.

Aber erst aus den Memoiren Withalms erfuhr ich, dass der ÖVP Politiker den schwerkranken Pittermann jede Woche im Spital besuchte: "Was wir alle miteinander am meisten brauchen" schrieb Withalm, "ist die Toleranz, der Versuch, den anderen zu verstehen, das Miteinander-Reden." Die Kompromissbereitschaft, vor allem die Sozialpartnerschaft, war und bleibt die Grundvoraussetzung für den wirtschaftlichen Aufstieg dieses kleinen und rohstoffarmen Landes.

Der große Prager Dichter Rainer Maria Rilke schrieb 1919: Wunden brauchen Zeit und heilen nicht dadurch, dass man Fahnen in sie einpflanzt. Zum 25. Jahrestag des Staatsvertrages sagte mir Bruno Kreisky in einem Interview für eine Sonderausgabe der Europäischen Rundschau: "Politisch ist der Österreicher ein anderer geworden. Die Art der Auseinandersetzungen, wie wir sie nicht nur in der Republik, sondern auch schon in der Monarchie hatten, diese hasserfüllten Auseinandersetzungen zwischen Lueger und Schönerer, diese hasserfüllten Kämpfe an den Universitäten zwischen jungen Menschen verschiedener Sprache und Religion, das alles ist überwunden, das gibt es nicht mehr, davon will niemand mehr etwas wissen. Und das zeigt doch eine gewisse Größe, so einer Art stille Größe, wenn ich sagen darf, dass der Österreicher eben aus der Geschichte gelernt hat, hoffentlich für längere Zeit."

Bei allem berechtigten Unbehagen über die Versäumnisse der Nachkriegszeit und manche Rückfälle im Umgang mit dem NS-Regime gibt es in Wirklichkeit auch in dieser Hinsicht eine positive Österreich-Bilanz, vor allem seit den bahnbrechenden Erklärungen Bundeskanzler Vranitzkys (1991 und 1993) über Österreichs Mitverantwortung und seit dem von der schwarz-blauen Regierung unter der Federführung von Bundeskanzler Schüssel 2000-2001 beschlossenen und von allen Parteien mitgetragenen internationalen Abkommen über die Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter und Holocaust-Opfer.

Es gibt nach wie vor laut jüngsten Umfragen natürlich auch in Österreich Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus und Vorurteile gegen Muslime. Aber - und das ist der springende Punkt - alle politischen Parteien lehnen (zumindest) öffentlich und offiziell (unabhängig von unerträglichen Handlungen, unzulässigen Erklärungen mancher Politiker) im Gegensatz zu Ungarn die Dämonen der Vergangenheit ab. Dazu trugen stets die klare Haltung der katholischen und protestantischen Kirchen ebenso bei wie die schnellen und unmissverständlichen Stellungnahmen der meisten Medien gegen rechtsradikale Tendenzen. - "Die Erinnerung an das Böse soll der Schutzschild gegen das Böse sein" sagte Bundespräsident Heinz Fischer vor sieben Jahren in einer Ansprache in Mauthausen ...

Ich darf zum Schluss die Maxime des großen österreichisch-britischen Philosophen Karl Popper zitieren: "Die offene Zukunft enthält unabsehbare und moralisch gänzlich verschiedene Möglichkeiten. Deshalb darf unsere Grundeinstellung nicht von der Frage beherrscht sein: ,Was wird kommen?', sondern von der Frage: 'Was sollen wir tun?' Tun, um womöglich die Welt ein wenig besser zu machen." (Paul Lendvai, DER STANDARD, 10.5.2012)

Die Rede wurde am 8. Mai 2012 bei der Regierungsfeier im Bundeskanzleramt gehalten.