"Ich bin nicht gegen eine zentralisierte Matura, sondern nur gegen die Einführung 2014."

Foto: seb/derstandard.at

"Es sollte einen Lehrplan geben, der gewisse Verbindlichkeiten hat, so dass alle Lehrerinnen und Lehrer auf die zentralen Elemente vorbereiten."

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"Durch die Standardisierung und die Zentralmatura werden die Lehrpersonen mit einer neuen Form von Feedback konfrontiert."

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"Es wäre wichtig gewesen, schon im Vorfeld der Einführung der Zentralmatura ein standardisiertes Leistungsbeurteilungssystem zu beschließen."

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"In der derzeitigen Situation wäre ich jedoch dagegen, Matura-Noten für ein Studium heranzuziehen, da sie ja eine nicht vergleichbare Bewertung darstellen."

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"Meiner Meinung nach muss jeder Abschluss auch etwas wert sein. Wenn ich so lange in die Schule gehe und dann einen Abschluss habe, muss er ein Ausweis sein für die Jahre davor, die ich gemacht habe."

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"Möglicherweise entkäme man leichter der Ideologiefalle durch eine Rauslösung der Bildungspolitik aus der Tagespolitik. Dann muss man nicht permanent Stellungskriege führen."

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"Man spürt eine Unsicherheit. Vor allem gibt es Unklarheit bei der Benotung." Bundesschulsprecherin Conny Kolmann kämpft gegen die flächendeckende Einführung der Zentralmatura ab 2014. In ihren Augen wird die Reform zu schnell durchgeführt: "Es wäre viel besser, wenn man dem Projekt mehr Zeit geben würde." Bildungspsychologin Christiane Spiel ist eine Befürworterin der Zentralmatura, sie versteht aber die Sorgen der Schüler: "Im österreichischen Schulsystem haben wir bisher keine systematische Rückmeldungskultur etabliert." Warum bei Reformen im Bildungsbereich oft die "Ideologiefalle" zuschnappt und welche Möglichkeiten die Zentralmatura in Hinblick auf ein späteres Universitätsstudium bietet, sagt sie im Interview mit derStandard.at.

derStandard.at: Frau Kolmann, Sie haben vor zwei Woche Ihre schriftliche Matura absolviert. Ab dem Schuljahr 2014 soll die Matura zentral sein. Was wird sich für die Schüler ändern?

Kolmann: Es wird viel mehr Ungewissheit geben. Man ist nicht mehr so gut darauf vorbereitet und weiß nicht, was kommt. Ich habe jetzt fünf Jahre lang eine Ausbildung gehabt und weiß, was mich erwartet. Bei der neuen Reifeprüfung ist das nicht mehr so fix. 

derStandard.at: Frau Spiel, wie haben Sie Ihre eigene Matura in Erinnerung? Konnten Sie abschätzen, was in etwa gefragt wird?

Spiel: In der Schule, die ich besucht habe, war es wirklich so, dass man nicht gewusst hat, was einen erwartet. Ich bin in Mathematik mündlich angetreten und habe meinen Lehrer gefragt, was ich lernen soll und er hat gesagt, den Stoff von der 1. bis zur 8. Klasse. Das war's, ich habe null Vorinformation erhalten, das war in den anderen Fächern analog, wir haben nicht einmal eine Einschränkung des Stoffs bekommen.

Kolmann: Sie haben aber das bekommen, was sie gemacht haben, und konnten sicher sein, dass das durchgenommen wurde.

Spiel: Hier müsste man grundsätzlich sagen: Es sollte einen Lehrplan geben, der gewisse Verbindlichkeiten hat, so dass alle Lehrerinnen und Lehrer auf die zentralen Elemente vorbereiten. Wenn man standardisierte Bewertungen einführt, dann kann das nur gehen, wenn die Lehrpersonen auch wissen, welche Inhalte kommen, damit sie diese auch durchnehmen. Das ist eine ganz zentrale Voraussetzung.

Kolmann: Da gebe ich Ihnen vollkommen Recht. Ich bin nicht gegen eine zentralisierte Matura, sondern nur gegen die Einführung 2014. Jeder Lehrer muss wissen, welche Bereiche ein Schüler beherrschen muss. Ich habe derzeit das Gefühl, dass das bei den Schülern und auch den Lehrern noch nicht angekommen ist. Sie wissen nicht, was sie unterrichten müssen.

derStandard.at: Was würden denn Bildungsstandards daran ändern?

Spiel: Es gibt derzeit keine Verbindlichkeiten bei der Beurteilung. Es gibt zwar einen Rahmenplan, was alles in den Unterricht einfließen soll. Aber letztlich bleibt es eine Entscheidung der Lehrpersonen, das kann sehr unterschiedlich gewichtet sein. Dazu kommt noch, dass häufig nicht einmal die Lehrpersonen konsistent bewerten, sondern vom Niveau der Klasse beeinflusst sind. Wenn eine Klasse in einem Fach ziemlich gut ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Bewertungen strenger sind.

Kolmann: Es wäre wichtig gewesen, schon im Vorfeld der Einführung der Zentralmatura ein standardisiertes Leistungsbeurteilungssystem zu beschließen. Das fehlt, deswegen gibt es auch so eine große Unsicherheit unter den Schülern, weil sie nicht genau wissen, ob man in Oberösterreich genauso benotet wird wie in Vorarlberg. Da gehören klare Standards her, bevor eine Reform der Reifeprüfung umgesetzt wird.

derStandard.at: Was ist Ihre konkrete Forderung für die Zentralmatura?

Kolmann: Im Lehrplan müssen ganz klare Inhalte stehen, die die Lehrer dann auch einhalten. Derzeit stehen da nur Überschriften, wie zum Beispiel in Mathematik das Integrieren, aber was genau darunterfällt, kann sich der Lehrer selbst aussuchen. Da wäre es wichtig, dass das aufgeschlüsselt wird; welche Inhalte verpflichtend sind, welche zusätzlich gemacht werden können, und wie benotet gehört. Wenn ich nicht weiß, wie ich beurteilt werde, dann ist das ein zusätzlicher Stressfaktor, der nicht dazu beitragen wird, dass ich positiv abschließen werde. 

derStandard.at: Welcher Zeitpunkt wäre für die Einführung der Zentralmatura richtig?

Kolmann: Ich möchte das nicht an ein Jahr knüpfen. Für mich ist nur wichtig, dass der Lehrplan fix ist, wenn eine Klasse mit der Oberstufe beginnt. Die Bücher müssen angepasst sein und die Lehrer genügend Schulungen gehabt haben. Dann kann man durchaus eine neue Reifeprüfung machen. Es geht nur darum, dass die Vorbereitungen abgeschlossen sein müssen, bevor man den Oberstufendurchlauf beginnt.

derStandard.at: Verstehen Sie die Sorgen der Schüler?

Spiel: Ich verstehe ihre Sorgen. Im österreichischen Schulsystem haben wir bisher keine systematische Rückmeldungskultur etabliert. Damit ist die Zentralmatura nicht nur eine Bedrohung für die SchülerInnen, sondern auch für die LehrerInnen.

Durch die Standardisierung und die Zentralmatura werden die Lehrpersonen mit einer neuen Form von Feedback konfrontiert: Wenn ihre SchülerInnen schlecht abschneiden, ist das auch eine Rückmeldung, dass sie sie nicht gut vorbereitet haben.

derStandard.at: Wie reagieren denn die Lehrer bei Ihnen an der Schule darauf?

Kolmann: Man spürt eine Unsicherheit. Vor allem gibt es Unklarheit bei der Benotung: Meine Englischlehrerin weiß nicht, wie sie bei der Matura benoten soll. In der BAKIP (Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik, Anm.) ist es sowieso ein Sonderfall. Wir hatten früher nur vier Jahre Mathematik, heuer ist es das erste Mal, dass es fünf Jahre Mathematik gibt. Da findet eine große Umstellung statt, und für die BAKIP gibt es auch keine Bücher. Das weiß man auch im Unterrichtsministerium. In Mathematik saugen sich die Lehrer die Beispiele aus den Fingern. Da spürt man schon, dass sich viel ändert.

derStandard.at: Frau Spiel, eines Ihrer Argumente für die Zentralmatura ist die bessere Vergleichbarkeit der Noten in Hinblick auf die Universität. Sie haben die Medizin-Aufnahmetests mit den Schulnoten verglichen. Was ist das Ergebnis?

Spiel: Ja, wir haben uns die EMS-Testleistung und gleichzeitig die Schulnoten angeschaut. Wie erwartet haben wir zwischen den Schulnoten in den naturwissenschaftlichen Fächern und den Testleitungen einen Zusammenhang festgestellt. Je besser die Testleistung war, desto besser waren auch die Schulnoten. Aber wir haben festgestellt, dass es massive Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Wenn man die Schulnoten von Männer und Frauen, die beim EMS-Test gleich gut abgeschnitten haben, miteinander vergleicht, haben die Frauen wesentlich bessere Noten gehabt bei gleichen Testleistungen wie die Männer.

derStandard.at: Worauf führen Sie das zurück?

Spiel: In die Note geht - gemäß Schulunterrichtsgesetz - nicht nur die absolute Leistung ein, sondern auch die Mitarbeit, die Arbeitshaltung und so weiter. Die zumeist unbewussten Geschlechtsstereotypen, wonach Mädchen in naturwissenschaftlichen Fächern weniger begabt sind als Knaben, dafür jedoch eifriger, finden ihren Niederschlag in unterschiedlichem Verhalten der Lehrpersonen zu beiden Geschlechtern. Im Zuge eines negativen Kreisprozesses werden diese Stereotypen auch häufig von den Knaben und Mädchen übernommen: Mädchen sind eifrig, haben jedoch wenig Selbstvertrauen in den Naturwissenschaften; Knaben haben höheres Selbstvertrauen; jedoch halten sie es für cool, nichts zu lernen. Damit haben Noten häufig nicht das gleiche Fundament bei Knaben und Mädchen. Es gibt sicher viele Knaben, die eigentlich ein gutes Potenzial haben, in der Schule aber aus „Coolheit" nur wenig gelernt haben.

derStandard.at: Bedeutet das, dass man sich durch die Zentralmatura bessere Ergebnisse von den Buben erwartet?

Spiel: Nein, wir würden uns nur dann bessere Ergebnisse erwarten, wenn die Matura-Note in irgendeiner Form eine Relevanz für ein Studium hätte. In der derzeitigen Situation wäre ich jedoch dagegen, Matura-Noten für ein Studium heranzuziehen, da sie ja eine nicht vergleichbare Bewertung darstellen.

In Deutschland ist es anders. Es gibt den Numerus Clausus, da spielt die Note eine ganz klare Rolle. Was bedeutet das? Wenn ich zum Beispiel später Psychologie studieren möchte, brauche ich einen Notenschnitt von 1,1. So beliebt ist dieses Fach. Wenn ich mich daher nicht die gesamte Oberstufe hinweg anstrenge, dann kann ich dieses Fach nicht studieren.

derStandard.at: Bedeutet das über kurz oder lang, dass man auf den EMS-Test verzichten kann und die Noten herziehen kann - wenn sich die Zentralmatura dann etabliert hat?

Spiel: Ich persönlich bin sehr dafür, dass die Institutionen, die eine Ausbildung anbieten, selber definieren, wie das Anforderungsprofil für die verschiedenen Studienrichtungen aussehen soll. Was brauchen die Studierenden als Voraussetzung, damit sie erfolgreich das Studium absolvieren können? Es sollte eine transparente Prüfung oder Studieneingangsphase geben.

derStandard.at: Wie sehen Sie die Zentralmatura als Richtwert für ein späteres Hochschulstudium?

Kolmann: Meiner Meinung nach muss jeder Abschluss auch etwas wert sein. Wenn ich so lange in die Schule gehe und dann einen Abschluss habe, muss er ein Ausweis sein für die Jahre davor, die ich gemacht habe. Deswegen finde ich wichtig, dass man darauf vorbereitet ist. Ob man das als Aufnahmekriterium für die Universität hernimmt, müssen sich die Unis selber ausmachen.

derStandard.at: Sie haben eine Bürgerinitiative gestartet, um die Zentralmatura zu verschieben. Was ist Ihr Ziel?

Kolmann: Wir sammeln derzeit Unterschriften, haben schon relativ viele beisammen. Wir erhalten großen Rückenwind von Schülerinnen und Schülern aus ganz Österreich. Wir hoffen, dass das Thema im Parlament behandelt wird, und dass die Stimme der Schülerinnen und Schüler ernst genommen wird. Wir wollen, dass sich was am Datum ändert, wann die Zentralmatura eingeführt wird. Man könnte auch die Schüler abstimmen lassen, ob sie zentral antreten wollen oder nicht.

derStandard.at: Bildungsministerin Claudia Schmied drängt sehr stark auf eine rasche Einführung der Zentralmatura. Wie bewerten Sie hier die Arbeit der Bildungsministerin?

Kolmann: Ich finde es ehrlich gesagt sehr schade, dass sie an dem Termin festhält. Meiner Meinung nach wäre es auch für sie viel besser, wenn man dem Projekt mehr Zeit geben würde. Deshalb finde ich ihre Leistung in dem Punkt, was das Zeitmanagement, angeht, eher "Nicht Genügend". Es sind viele Dinge noch nicht passiert: Wenn mir gesagt wird, die Leistungsbeurteilungsverordnung wird nächstes Jahr umgestaltet und der Zentralmatura angepasst, schön und gut. Wenn aber Leute schon seit zwei Jahren in der Oberstufe sitzen und vorbereitet werden sollen, es aber noch keine Verordnungen gibt, dann ist das einfach zu spät.

Spiel: Ich muss sagen, von ihrer Grundhaltung her verstehe ich die Ministerin schon. Und zwar aus einer politischen Perspektive. Wenn wir uns Österreich anschauen und den Diskurs über Bildung, so würde ich sagen, dass wir nicht gerade Weltmeister sind, was die Geschwindigkeit betrifft, wie Reformen umgesetzt werden. Da verstehe ich, dass die Ministerin sagt: "Jetzt haben wir uns etwas vorgenommen, jetzt ziehen wir das auch durch." Wir haben in Österreich leider viele ideologische Gräben.

Kolmann: Mein Verständnis von Bildungspolitik ist, dass man das verändert, was die Schule für Schülerinnen und Schüler besser macht. Das sollte meiner Meinung nach über alle politischen Grenzen hinausgehen. Aber das passiert halt nicht. Man sollte hier von den ideologischen Grenzen runter steigen und einfach schauen: Was wollen die Schülerinnen und Schüler?

Spiel: Leider gibt es gerade in der Bildungspolitik oft die ideologische Pattstellung. Die Politik will jedoch schnelle Erfolge haben, das macht es schwierig. Ich bin froh, dass es in der Wissenschaft anders ist. Möglicherweise entkäme man leichter der Ideologiefalle durch eine Rauslösung der Bildungspolitik aus der Tagespolitik. Dann muss man nicht permanent Stellungskriege führen. (Sebastian Pumberger, Rosa Winkler-Hermaden, derStandard.at, 21.5.2012)