Bereits im Jungpaläolithikum ein beliebtes "künstlerisches" Motiv: das primäre weibliche Geschlechtsorgan.

Foto: Raphaëlle Bourrillon

Washington/Wien - Dass männliche Pubertierende gerne ein Wort auf Wände schmieren, das drei Buchstaben hat und mit einem Strich und einem O zu Auto umformuliert werden kann, hat eine ziemlich lange Tradition. Ja, es gibt sogar gute Gründe zur Annahme, dass alle Wandkunst von Homo sapiens genau damit begonnen hat: mit symbolischen Darstellungen des primären weiblichen Geschlechtsorgans.

Einen stichhaltigen Beweis dafür liefert nun jedenfalls ein internationales Anthropologenteam, das auf einem 2007 entdeckten Sandsteinblock die bislang ältesten bekannten "künstlerischen" Gravuren entdeckten. Und was da vor 37.000 Jahren eingeritzt wurde, waren buchstäblich in erster Linie Darstellungen der Vulva, wie die Forscher um Randall White (New York University) im Fachblatt PNAS berichten.

Der Ort, wo der künstlerisch und wissenschaftliche wertvolle Fels gefunden wurde, heißt Abri Castanet, liegt im südwestfranzösischen Tal der Dordogne, ganz in der Nähe der Höhlen von Lascaux. Die Region gilt seit langem als eine bedeutende Fundstätte für Artefakte der sogenannten Aurignacien, der ältesten Kultur der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum) in Europa. Archäologen haben in der Gegend von Abri Castanet schon vor Jahren durchbohrte Tierzähne, Muscheln, Elfenbein, aber auch Bilder auf Kalksteinplatten entdeckt.

Einen ganz besonderen Fund machten die Forscher 2007 mit einem 1,5 Tonnen schweren Sandsteinbrocken, der den damaligen Menschen - man vermutet: Rentierjägern - als Schutz diente, ehe er aus dem Felsen brach.

Auf der Unterseite des Steinblocks stieß das Team um White nämlich auf etliche Einritzungen und Malereien, die durch den Felssturz gut erhalten geblieben waren. Neben anderen Ornamenten fanden sich wiederholt ovale Symbole, die von den Wissenschaftern als Darstellung des weiblichen Geschlechts gedeutet wurden - zumal diese Darstellungen auch schon von anderen Aurignacien-Funden bekannt waren.

Die Altersbestimmung mittels Radiokarbonmessungen ergab dann einen Weltrekordwert: Die Wandkunst ist laut den Bestimmungen der Archäologen höchstwahrscheinlich 37.000 Jahre alt und damit älter als die Malereien der Chauvet-Höhle im Südosten Frankreichs, die bis jetzt als die älteste Wandkunst der Welt galt. Das Alter dieser Darstellungen, die vor kurzem erst durch den Film Die Höhle der vergessenen Träume von Werner Herzog über die Wissenschaft hinaus Bekanntheit erlangte, wird auf bis zu 35.000 Jahre geschätzt.

Im Unterschied zur Chauvet-Höhle, die tief unter der Erde und weit weg von den damaligen Schlafstätten der Menschen war, dürfte die Wandkunst von Abri Castanet direkt mit dem Alltagsleben verbunden gewesen sein, sagt White und folgert daraus: "Die Steinzeitmenschen der Aurignacien funktionierten wohl ähnlich wie die Menschen heute." (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 15.5.2012)