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Stasi-Akten der früheren DDR: Von 1949 bis 1989 waren aus politischen Gründen an die 200.000 Menschen inhaftiert, die alle arbeiten mussten. Jetzt prüfen die Stasi-Beauftragten, ob Westfirmen wie Quelle und Neckermann von Zwangsarbeit wussten.

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Lutz Rathenow (59) stammt wie Roland Jahn aus Jena in Thüringen, wo die DDR-Opposition schon in den Siebzigerjahren aktiv war. Rathenow wurde mehrfach verhaftet, lehnte aber Ausreiseangebote in den Westen ab. Seit 2011 ist der Lyriker und Prosaautor Sächsischer Landesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen mit Sitz in Dresden.  Foto: Stackl

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STANDARD: Herr Rathenow, warum geht gerade von Sachsen ein besonderer Druck zur weiteren Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit aus?

Lutz Rathenow: In Sachsen war der Kern dessen, was wir die friedliche Revolution von 1989 nennen. Insofern ist das Selbstbewusstsein in den Aufarbeitungsinitiativen hier größer als etwa in Brandenburg oder in Mecklenburg-Vorpommern. In Mecklenburg-Vorpommern war Joachim Gauck (der neue deutsche Bundespräsident, Anm.) einer der Mutigsten und Kühnsten in den letzten Stunden der DDR, der aber vorher nicht groß in Erscheinung getreten ist. Das ist kein Vorwurf, das bietet vielmehr Identifikationsmomente mit normalen DDR-Bürgern. In Sachsen gibt es Gruppen, die in der DDR schon sehr lange Opposition gemacht haben.

STANDARD: Und worüber beklagen die sich nun konkret?

Rathenow: Sie hatten meistens berufliche Nachteile in der DDR, mindestens einen Karriereverzicht. Und es gibt da die Absurdität, dass, wer ein halbes Jahr in Haft war, monatlich 250 Euro Rente erhält. Wer aber kurz davor entlassen wurde, hat Pech. Dazu kommt, dass man sich vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen fühlt.

STANDARD: Und Sie verschaffen den Opfern diese öffentliche Präsenz?

Rathenow: Leute wie Gauck, Roland Jahn (der neue Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen, Anm.) oder ich versuchen, ihnen eine Stimme zu geben. Aber wir sind Menschen, die sich nicht zu Opfern haben machen lassen, die ihren Frust gegen die DDR in der DDR selbst ausgelebt haben. Unter anderem auch via ORF oder im "Profil". Ich habe zwei große Interviews im Herbst 1989 "Profil" gegeben, wo man über die Möglichkeit einer linken Deutschlandpolitik redete, als westdeutsche Zeitungen noch überhaupt nicht verstanden, was ich da herumfasle.

STANDARD: Sie waren aber auch in Haft und sind von der Uni geflogen.

Rathenow: Ja, es gibt 15.000 Seiten Stasi-Akten über mich. Ich war ein Zielobjekt der Zersetzungsmaßnahmen, sie versuchten mich zum Opfer zu machen. Aber zum Glück ist es mir gelungen, mithilfe akkreditierter Westjournalisten etwas dagegen zu tun. Wenn man ein Akteur ist, ist man nicht mehr nur Opfer.

STANDARD: Roland Jahn ist, wie andere, ausgebürgert worden.

Rathenow: Dann hat er aber sehr viel gemacht, von Westberlin aus. Das gab es nur in der Endphase der DDR. Das ist für Opfer der Vierziger- und Fünfzigerjahre schmerzhaft, für ihre sechs Jahre Bautzen (Gefängnis für politische Gefangene, Anm.) hat niemand so recht Verständnis. Meine Aufgabe ist es, mich um die Folgeprobleme der verschiedenen DDR-Traumatisierungen zu kümmern.

STANDARD: Laut einem schwedischen Bericht hat die Firma Ikea, die in der DDR Möbel herstellen ließ, von Zwangsarbeit politischer Gefangener profitiert. War das ein verbreitetes "Geschäftsmodell"?

Rathenow: Ikea - das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es wurde systematisch an verschiedenen Orten für verschiedene Auftraggeber im Westen gearbeitet, auch für große Versandhäuser. Um den Fall Ikea, der schon 2002 bekannt wurde, ist jetzt in Schweden noch einmal eine Diskussion entbrannt, besonders wegen der sozialen Standards, auf die Ikea sonst Wert legt. Wenn es da zu Entschädigungsleistungen kommt, ist das mehr, als man von westdeutschen Auftraggebern hört, die argumentieren: "Wir haben nicht gewusst, dass das Zwangsarbeit war." Recht haben aber auch die, die sagen, wir wollen jetzt nicht die Verursacher des Bösen in den Westbetrieben sehen. Es waren die Haftbedingungen der DDR, die grundlegend schlecht waren.

STANDARD: Zwangsarbeit gab es ja auch in gefährlichen Chemiefabriken und im Uranbergbau (ein ausführlicher Bericht dazu erschien im Crossover vom 3.4.2012). Abgesehen von den ehemaligen Zwangsarbeitern - um welche Opfergruppen kümmern Sie sich noch?

Rathenow: Es gab Zwangsumsiedlungen innerhalb der DDR, etwa die "Aktion Ungeziefer" in den Fünfzigerjahren, da sind mehrere Zehntausend Menschen aus dem Grenzgebiet ausgesiedelt worden. Deswegen wurden Kinder in den Schulen noch Jahre danach gemobbt. Da gibt es bis heute psychologische Auffälligkeiten, bis in die zweite Generation hinein.

Eine andere, schwierige Gruppe sind die Kinderheiminsassen, die man aber nicht alle schlichtweg als politische Opfer betrachten kann. Es gab in bestimmten Heimen aber auch nicht sachgerechte bis hin zu unmenschlichen Bedingungen, wo Kinder in Arrestzellen, in Dunkelhaft untergebracht worden sind. Sie wünschen sich heute natürlich Rehabilitierung, im Zuge der sexuellen Missbrauchsdebatte, die aus dem Westen kam. Das gab es im Osten auch, aber wenig.

STANDARD: Es heißt, dass die Stasi Heimkinder angeworben hat?

Rathenow: Es gibt Schüler, die mit 16 von der Schule geflogen sind und nie wieder richtig Tritt gefasst haben oder die als IM (inoffizielle Mitarbeiter, Anm.) angeworben wurden. 1989 hatte die Staatssicherheit 8000 IM, die keine 18 Jahre alt waren. Man kann auch da von Missbrauch reden. Psychologen sprechen von "posttraumatischen Verbitterungsstörungen".

STANDARD: Sie sind dafür, dass die Stasi-Akten noch über das Jahr 2019 hinaus zugänglich bleiben?

Rathenow: Die Akten müssen nicht nur offen bleiben, sie müssen noch offener werden. Es wird weiter Interesse an der Vergangenheit geben. Ich denke, bis 2035 wird es Diskussionen über berufliche Befangenheit geben, dann ziehen sich die Letzten aus dem Berufsleben zurück. Ich würde das gern zu einer Zukunftsdiskussion machen in dem Sinn, dass man die spezifischen Machtverhältnisse der DDR analysiert, denn der Realsozialismus war hier schon anders als in Vietnam, in Nordkorea oder etwa in Polen - wo er nie so fest installiert war. (Erhard Stackl, DER STANDARD, 15.5.2012)