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Der geniale Mathematiker John Nash ist im Alter von 30 Jahren an paranoider Schizophrenie erkrankt. Sein Leben wurde 2001 (A Beautiful Mind, Anm. Red.) verfilmt.

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Michael Musalek ist Institutsvorstand und ärztlicher Direktor des Anton-Proksch-Instituts für Suchtkranke in Wien und Past President der Österreichischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.

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Vincent van Gogh, Kurt Cobain, John Nash und Mozart - die Liste berühmter psychisch kranker Künstler ist nicht enden wollend. Ob der Wahnsinn Menschen zu Genies macht, ist eine viel diskutierte Frage. Michael Musalek, Leiter des Anton-Proksch-Instituts, erkennt Zusammenhänge zwischen künstlerischen Begabungen und bipolaren Störungen.

derStandard.at: Aristoteles hat schon gesagt: "Es gibt kein großes Genie ohne einen Schuss Verrücktheit." Wie eng liegen Genie und Wahnsinn tatsächlich beieinander?

Musalek: Die Frage ist, was man unter dem Begriff "Wahnsinn" versteht. Im deutschen Sprachraum wird der Begriff "Wahnsinn" einerseits für Psychosen verwendet, andererseits aber auch für Grenzüberschreitungen. Wenn also von einem Wahnsinnigen die Rede ist, dann ist das eventuell ein Mensch, der sich an keine Regeln hält beziehungsweise eine schwer nachvollziehbare Tat begeht. Der Begriff "Psychose" wiederum ist viel zu eng gegriffen. Wir reden von Genie und Wahnsinn und meinen eigentlich außerordentliche Fähigkeiten und psychische Krankheiten. 

derStandard.at: Aber sind Genies nicht generell Grenzüberschreiter?

Musalek: Dass es hier einen unmittelbaren Zusammenhang gibt, steht außer Frage und erklärt sich bereits durch das Wort "Genie". Genies sind außerordentliche Menschen, die über die durchschnittlichen Maße oder Grenzen hinaus Begabungen besitzen, aufgrund derer sie in der Lage sind, außergewöhnliche Werke zu schaffen. Es ist nicht zu erwarten, dass ein Opportunist ein Genie wird. 

derStandard.at: Und gibt es zwischen außerordentlichen Fähigkeiten und psychischen Krankheiten einen Zusammenhang?

Musalek: Dazu gibt es reichhaltig Literatur. Rein epidemiologisch betrachtet besteht hier eine sehr enge Verbindung. Vor allem zwischen künstlerischen Begabungen und dem, was wir früher als manisch-depressive Erkrankungen und heute als bipolare Störungen bezeichnen. Es gibt aber auch Zusammenhänge zwischen Hochbegabungen und schweren psychischen Erkrankungen, also Störungen, die in den großen Topf der schizophrenen Erkrankungen hineinfallen. 

derStandard.at: Warum sind Hochbegabte häufiger psychisch krank als durchschnittlich intelligente Menschen?

Musalek: Weil sie eine besondere Fähigkeit zum emotionalen Erleben haben und weil gerade jene Menschen, die infolge ihrer bipolaren Störung unter einer Antriebssteigerung leiden, natürlich auch eher zu Grenzüberschreitungen neigen und dementsprechend zu außerordentlichen Leistungen fähig sind. 

derStandard.at: Und diese besonderen Fähigkeiten sind in jeder Phase einer Erkrankung präsent?

Musalek: Nein. In der Krankheitsphase selbst sind diese Menschen nicht so produktiv wie in den Phasen dazwischen. Ein wunderbares Beispiel ist hier van Vincent van Gogh. Er hatte so ziemlich alles, was die Psychiatrie zu bieten hat, angefangen von der bipolaren Störung bis hin zu schizophrenen Episoden. Seine Kunstwerke stammen aber aus Zeiten, in denen er nicht akut psychisch krank war. Offenbar ist es so, dass die Krankheitsphasen tiefe emotionale Erlebnisse hinterlassen, die den Betroffenen zu außerordentlichen künstlerischen Umsetzungen bewegen. 

derStandard.at: Darf man bei bestimmten psychischen Erkrankungen bestimmte Begabungen erwarten beziehungsweise muss umgekehrt ein genialer Künstler damit rechnen, dass er manisch-depressiv wird?

Musalek: Es gibt bipolare Störungen unter Komponisten, Literaten, Malern wie Philosophen. Ich sehe hier keine Zusammenhänge. Umgekehrt macht eine psychische Krankheit einen Menschen noch nicht zum Künstler. Um Außergewöhnliches zu komponieren oder zu malen, muss man auch die technischen Fähigkeiten dazu besitzen. 

derStandard.at: Gibt es psychisch gesunde Menschen mit Hochbegabungen? 

Musalek: Die gibt es sicher, allerdings ist die Zahl sehr gering. Ganz einfach, weil die psychische Krankheit zu diesem tiefen emotionalen Erleben befähigt und das letztendlich zu diesen besonderen und grenzüberschreitenden Möglichkeiten führt. 

derStandard.at: Das heißt, Eltern müssen sich davor fürchten, dass ihr hochbegabtes Kind später eine bipolare Störung entwickelt?

Musalek: Nicht unbedingt, man könnte aber darauf hoffen, denn dann wird das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit wirklich genial. Unser Problem ist, dass wir grundsätzlich psychische Krankheit oder Krankheit als etwas Schlechtes betrachten beziehungsweise Gesundheit als etwas ausschließlich Gutes sehen. 

derStandard.at: Positiv gewertet wird die psychische Krankheit von der Gesellschaft erst dann, wenn diese Menschen etwas Besonderes schaffen.

Musalek: Das stimmt. Leider erkennen die wenigsten, dass sowohl Krankheit als auch Gesundheit eine Chance darstellen, die eben genützt wird oder auch nicht. Der völlig falsche Zugang wäre es auf jeden Fall, darauf zu hoffen, dass ein Kind eine psychische Erkrankung bekommt, weil es dann zum Genie wird.

derStandard.at: Geniale Musiker wie Kurt Cobain beispielsweise hatten oder haben auch mit Suchterkrankungen zu kämpfen. Gibt es hier ebenfalls eine Verbindung mit der gesteigerten Kreativität?

Musalek: Es besteht insofern ein Zusammenhang, als bipolare Störungen, Depressionen oder Angststörungen per se eine hohe Comorbidität zu Suchterkrankungen besitzen. Allein bei der bipolaren Störung darf man davon ausgehen, dass zwischen zehn und 20 Prozent der Betroffenen auch suchtkrank sind. Umgekehrt ist es sogar so, dass Suchtkranke in 30 bis 60 Prozent der Fälle auch manisch-depressive Zeichen aufweisen. Das zeigt, dass die bipolare Störung in vielen Fällen das Grundproblem ist und die Suchtstörung dazukommt. 

derStandard.at: Viele große Künstler zerbrechen an ihrem Ruhm. Hat das ebenfalls mit der psychischen Störung zu tun?

Musalek: Das ist vor allem bei reproduzierenden Künstlern der Fall, die unter dem extremen Druck stehen, tagtäglich eine Maximalleistung zu bringen. Wir alle müssen eine gute Leistung bringen, aber wir wissen auch, dass wir Tage haben, wo wir super sind, und dann gibt es Tage, wo wir eben nur gut sind. Für einen berühmten Musiker ist das sehr schwierig, weil ein mittelmäßiger Auftritt ganz einfach zu wenig ist. Um an der Spitze zu bleiben, wird deshalb häufig zu aufputschenden und angstlösenden Arzneimitteln gegriffen. Das ist aber eher bei performenden Künstlern der Fall. Davon abzugrenzen sind Maler, die eher aufgrund ihres Grenzgängertums nach Aufputschmitteln greifen, um ihre emotionalen Erlebnisse noch zu intensivieren. (Regina Philipp, derStandard.at, 15.5.2012)