Zum Teil völlig verwachsen sind manche Gräber des Jüdischen Friedhofs Graz. Andere erzählen vom jüdischen Leben, etwa von jenem Markus Orowans. Auf seinem Grabstein finden sich auch Gedenkinschriften für Verwandte, die in der NS-Zeit ermordet wurden.

Fotos: Halbrainer

Ein verwildertes Stück Land fanden die Burschen und Mädchen der sechsten Klasse des Akademischen Gymnasiums in Graz vor, als sie im letzten Herbst ihren Job als wissenschaftliche Assistenten antraten. Ziel ihrer historischen Feldforschung war "Beth Hachajim" - der Jüdische Friedhof am Rand von Graz, auf dem auch mehrere Massengräber an die Opfer der Todesmärsche ungarischer Zwangsarbeiter erinnern.

Die Jugendlichen hatten die Aufgabe, alle 1200 Grabsteine fotografisch zu dokumentieren und die Inschriften zu transkribieren, ein schwieriges Unterfangen, denn viele Inschriften waren so stark verwittert, dass man sie kaum noch entziffern konnte. Zum Glück gab es da noch die beiden Historiker, die das Projekt leiten. Angesiedelt im "Sparkling Science" -Programm des Wissenschaftsministeriums soll auf diese Weise der Dialog zwischen Wissenschaftseinrichtungen und Schulen gefördert werden.

"Wenn unsere jungen Projektpartner nicht mehr weiterwussten, sind wir natürlich eingesprungen", berichtet Projektleiter Gerald Lamprecht, Zeithistoriker am Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz. Unzählige Male ist er mit seinem Kollegen Heimo Halbrainer in den vergangenen Monaten zum Jüdischen Friedhof gepilgert, um die Gunst eines ganz speziellen Lichteinfalls für die mühsame Entzifferung kaum leserlicher Inschriften zu nutzen. "Mittlerweile haben wir bis auf zehn alle Grabinschriften entschlüsselt", sagt Halbrainer. Die auf Hebräisch verfassten Textteile werden zurzeit am Institut für jüdische Geschichte Österreichs in St. Pölten übersetzt.

Und was erzählen diese Gräber über die Menschen, deren Überreste sie bergen? "Grundsätzlich sind die Grazer Gräber fast alle sehr einfach", berichtet Gerald Lamprecht. "Sie sind kaum künstlerisch gestaltet, und größere Grabanlagen gab es nur für die wenigen Prominenten". Im Gegensatz zu Wien begann in Graz der Zuzug von Juden erst Mitte des 19. Jahrhunderts. "Diese Leute kamen oft als kleine Händler nach Graz und mussten sich erst eine Existenz aufbauen", sagt Heimo Halbrainer. "Als sie dann wirtschaftlich Fuß gefasst hatten, kam der Erste Weltkrieg und gleich danach die Weltwirtschaftskrise."

Um etwas über die Menschen herauszufinden, die im 1864 errichteten Jüdischen Friedhof in Graz begraben sind, haben die Forscher und ihre jungen Assistenten nicht nur die Grabinschriften dokumentiert und studiert, sondern auch die Sterbe- und Heiratsmatrikeln durchforstet. Auf dieser Basis konnte das Historikerteam Kurzbiografien zu allen auf den Grabsteinen genannten Personen erarbeitet.

Rekonstruierte Lebensläufe

So weiß man beispielsweise über den in Ungarn geborenen Geschäftsmann Markus Orowan, dass er 1874 - nachdem es Juden wieder erlaubt war, sich in der Steiermark niederzulassen - nach Graz kam, wo er ein kleines Möbelgeschäft eröffnete. Dieses baute er im Laufe seines Lebens zu einem florierenden und angesehenen Einrichtungshaus in der Gleisdorfer Straße aus. Gleichzeitig war er in der Israelitischen Kultusgemeinde aktiv und engagierte sich in der Chewra Kadischa, einem Verein für fromme und wohltätige Werke. Er starb 80-jährig im August 1913.

Auf seinem Grab sind - wie auf zahlreichen anderen - auch Gedenkinschriften für Verwandte, die während der NS-Zeit in Konzentrationslagern ermordet wurden. Auch am Grab des 1924 verstorbenen " Privatiers" Wilhelm Orowan erinnern Inschriften an dessen Frau, die 1942 in Theresienstadt starb, sowie an den gemeinsamen Sohn, der 1938 nach Frankreich floh und von dort nach Auschwitz deportiert und vergast wurde.

Die Beschäftigung mit diesen lange vergessenen Relikten der jüdischen Gemeinde in Graz öffnet den Schülern und Schülerinnen eine Hintertür zur Geschichte, was einen ganz speziellen, sehr unmittelbaren Blick auf vergangene Ereignisse und ihre Zusammenhänge ermöglicht: "Die Arbeit auf dem Friedhof war für die jungen Leute eine intensive Erfahrung, die vielleicht auch etwas Unheimliches an sich hatte", vermutet Heimo Halbrainer. "Kaltgelassen hat sie jedenfalls niemanden."

Erinnerung und späte Pflege

Neben der Dokumentationsarbeit mussten sich die Nachwuchshistoriker außerdem mit der Frage auseinanderzusetzen, wie es um die Erinnerung der heutigen Grazerinnen und Grazer an diese Zeit bestellt ist. Dazu haben sie etwa Passanten nach dem Weg zum Jüdischen Friedhof gefragt oder ihre Kollegen bei der Fotodokumentation vor Ort gefilmt. Das Video ist gemeinsam mit den Fotos und einem Katalog mit sämtlichen Grabinschriften und Kurzbiografien ab 16. Juni in der Grazer Synagoge zu sehen.

Mit dem Washingtoner Abkommen hat sich die Österreichische Bundesregierung 2001 übrigens zur Restaurierung und Erhaltung jüdischer Friedhöfe in Österreich verpflichtet. 2010 wurde schließlich ein entsprechendes Bundesgesetz erlassen, wonach der Bund sowie die Israelitische Kultusgemeinde ab 2011 in den nächsten 20 Jahren je eine Million Euro jährlich für die Instandsetzungsarbeiten zur Verfügung stellen müssen.

Die Stadt Graz ist kürzlich die Verpflichtung eingegangen, in den kommenden zwanzig Jahren den Jüdischen Friedhof in Wetzelsdorf instand zu halten, bereits im heurigen Budget sind dafür 20.000 Euro vorgesehen. Künftig wird der Friedhof von der Holding Graz betreut, die dadurch entstehenden Ausgaben werden vom nationalen Fonds zur Instandsetzung der jüdischen Friedhöfe in Österreich gefördert. (Doris Griesser, DER STANDARD, 16.5.2012)