Wojciech Czaja sprach mit ihm über Copyright, Patente und die Zukunft der Forschung.
STANDARD: Seit ein paar Monaten sind Sie Direktor am MIT Media Lab. In den US-amerikanischen Medien wurde Ihre Einberufung als "ungewöhnliche Wahl" bezeichnet. Warum das?
Joi Ito: Die Ungewöhnlichkeit bezieht sich wohl auf die Tatsache, dass ich zwar an zwei Colleges studiert, aber keines der beiden Studien beendet habe. Und trotzdem fiel die Wahl aus rund 250 Kandidaten ausgerechnet auf mich. Wie es scheint, zählt ein Studienabschluss für die Leute am MIT Media Lab nicht zu den wichtigsten Entscheidungskriterien.
STANDARD: Das ist ungewöhnlich.
Ito: Am MIT gelten andere Spielregeln als im übrigen Amerika, wo Abschlüsse an bestimmten Colleges einen sehr hohen Stellenwert haben. Am MIT Media Lab geht es um Networking und Interdisziplinarität. Die meisten Absolventen sind in ein, zwei Fachgebieten perfekt spezialisiert, aber ihnen fehlt das Interesse am großen Ganzen. Da hat es so ein Ausreißer wie ich schon einfacher.
STANDARD: Werden Formalitäten in der Forschung überbewertet?
Ito: Und wie! Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel. Ein großes Problem ist die IP-Policy (Intellectual Property, also Geistiges Eigentum, Anm.). Ich habe kurz vor meinem Antritt als Media-Lab-Direktor einen Blog gestartet, auf dem ich meine Schwerpunkte und Ziele genannt habe. Eines davon ist die Erneuerung der IP-Richtlinien. Wir möchten untersuchen, wie die Intellectual Property des Media Lab aufgebaut ist und wie sie sich im Laufe der Zeit verändert hat. À la longue wollen wir die Richtlinien vereinfachen und etwaige Hindernisse aus dem Weg räumen. Es gibt eine eigene Kommission, die das Projekt betreut.
STANDARD: Was ist Ihr Ziel?
Ito: Ich bin ein Verfechter von Open Source. Ich bin bei Creative Commons tätig - früher als CEO, heute als Chairman - und in all diesen Jahren setze ich mich vehement dafür ein, dass Forschungsergebnisse in bestimmten Fachkreisen leichter zugänglich gemacht werden.
STANDARD: Wie bringt man Forscher dazu, ihre Daten offen zur Verfügung zu stellen?
Ito: Indem man sie überzeugt! Es ist ein Phänomen, dass die Studenten des MIT Media Lab zwar ihre Resultate teilen möchten, nicht aber ihre Daten. So kommen wir nicht weiter. Das ist vorprogrammierter Stillstand.
STANDARD: Wenn Sie alles offenlegen, was passiert dann mit den geistigen Eigentumsrechten?
Ito: Geistiges Copyright ist eine gesetzliche Bestimmung, die meinen Zielen zugegebenermaßen im Weg steht. Ich zweifle daran, dass wir diese Gesetzesbestimmung in absehbarer Zukunft ändern können. Was wir aber tun können: Wir könnten das individuelle geistige Eigentum auf eine Community ausweiten und innerhalb dieser Community auf Basis von Open Source arbeiten. Damit wäre das Copyright nach außen gewahrt.
STANDARD: Ist das realistisch? Die Konkurrenz ist enorm - vor allem in der Wissenschaft.
Ito: Das mag schon sein. Aber wir müssen uns die Frage stellen: Geht es uns um den Fortschritt für die Gesellschaft, also um das große Ganze, oder nur um das persönliche Renommee jedes Einzelnen?
STANDARD: Was ist mit Patenten?
Ito: Patente sind eine im Grunde genommen gute Idee mit finanziellem Fokus. Aber ich erkenne immer wieder, wie Patente und Copyrights dazu beitragen, den Fortschritt zu verzögern.
STANDARD: Ihre Forderung würde nicht nur die Forschung, sondern auch den gesamten Kunst- und Kulturbetrieb revolutionieren.
Ito: Das System des geistigen und produktiven Eigentums ist längst überholt. Schauen Sie sich nur einmal die Customized Shoes von Nike an. Bei NIKEiD kann ich Form, Material und Farbe meines persönlichen Sneakers individuell bestimmen und im Internet bestellen. Wo liegen da die Copyrights? Bei Nike oder bei Joi Ito? Die Zeiten des Rechte-Inhabers und des passiven Konsumenten sind vorbei. Das war eine behelfsmäßige Gesetzeskreation des 19. und 20. Jahrhunderts, als nur Professionelle Geistiges und Materielles produzieren konnten.
STANDARD: Und heute?
Ito: Heute kann jeder Einzelne als Künstler, Erfinder, Produzent und Distributor auftreten. Ich denke, dass wir im 21. Jahrhundert nicht mehr von Produzenten und Konsumenten sprechen sollten, sondern von " Teilnehmern". Jeder ist Teilnehmer am Gesamtsystem.
STANDARD: Was wird - unter Ihrer Direktion - der Beitrag des MIT an diesem Gesamtsystem sein?
Ito: Faktum ist: Die Ära der großen digitalen Erfindungen ist vorbei. Wir bewegen uns schon weiter. Das Internet hat in den letzten Jahrzehnten so viel verändert und die Welt dermaßen umgekrempelt, dass es jetzt Zeit wird, diese Errungenschaften wie etwa Kommunikation, Komplexität und Transparenz aus der Isolation der digitalen Welt herauszunehmen und in die Wirklichkeit zu implantieren. In Zukunft werden wir uns nicht mehr nur mit einzelnen Techniken und Technologien beschäftigen, sondern mit der Vernetzung verschiedener Themen und Bereiche. Das Motto lautet: "Reboot the World!"
STANDARD: Was heißt das konkret?
Ito: Wir müssen uns mit Armut und mit Krankheiten beschäftigen, mit sozialen Bewegungen und kollektiver Zusammenarbeit, mit Networking zwischen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Frage, die mich am meisten interessiert, ist: Können wir den offenen Geist des Internets, an der wir in den letzten Jahrzehnten gearbeitet haben, auf die Bildungs- und Sozialpolitik sowie auf die Global Player in der Wirtschaft übertragen? Ich denke: ja. (Wojciech Czaja, DER STANDARD, 16./17.5.2012)