Bisher hatte ich das Wort "anonym" vor einem Verein mehr mit Alkoholikern oder anderweitig Erkrankten in Verbindung gebracht. Auch das Grab des unbekannten Soldaten fällt einem spontan dazu ein, oder Werke des unbekannten Künstlers. Sind die Werke des Künstlers hingegen bekannt und will dieser eine gerechte Entlohnung seiner Arbeit, kann es neuerdings dazu kommen, dass er dafür angegriffen wird. Sein Briefgeheimnis kann verletzt, seine private Adresse und Telefonnummer veröffentlicht werden. Bei manchen politisch aktiven Künstlern nicht folgenlos.
Die jenigen, die das tun, legen selbst größten Wert darauf, namenlos, gesichtslos, adresslos zu bleiben. Sie nennen sich Anonymous. Sie haben auch Aktionen gesetzt, die ich zum Teil passend fand. Das leere Drohen mit angeblichem Polit-Insiderwissen (es ist weit ungefährlicher, kleine Künstler zu outen als Politiker) war bereits weniger passend. Es wirkte, als würde dem Kollektiv der öffentliche Auftritt aus dem Ruder laufen: An-den-Pranger-Stellen der Menschen, die eine andere Meinung vertreten, ist nicht cool. Eine Vorgangsweise, die mich zu sehr an Vorgangsweisen von Diktaturen erinnert, um mir nicht Übelkeit zu erregen.
Die Initiative "Wir sind die Urheber! Gegen den Diebstahl geistigen Eigentums" wurde bisher von mehr als 6000 Personen unterzeichnet. Man muss deren Meinung nicht teilen. Aber Gewalt ist als Antwort absolut fehl am Platz. Wie die deutschen Medien berichten, wurde eine ganze Liste von Unterstützern der Initiative -samt Arbeitsplatz, Telefon, Adresse und anderen privaten Daten - von Anonymous veröffentlicht, weil die Betroffenen gewagt hatten, eine Urheberrechtsdebatte mit anderem Standpunkt zu führen.
Im Klartext bedeutet das, dass ein anonymes Kollektiv - oder Teile davon - mit unlauteren Mitteln versucht, konkrete Menschen einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen, die ihnen widersprechen. Das bedeutet, dass weitere Sympathisanten mit dieser Vorgangsweise davon abgehalten werden sollen, ihre Stimme in einer bestimmten Art und Weise zu erheben.
Das bedeutet, dass die Ausführenden sich dabei auch noch im selbsternannten Recht wähnen. Das tut jemand, der Lynchjustiz betreibt, übrigens auch. Es gibt sicher vieles, das man bei der Urheberrechtsdebatte verhandeln, neu auslegen oder verändern kann: aber sicher nicht mit solchen Mitteln. Diese Mittel disqualifizieren. Diese Mittel haben den Boden der Demokratie verlassen. Es gibt keine Entschuldigung dafür. Ich stehe ein für meine Meinung: mit Namen und Gesicht. Hier. Jetzt. Ich bin gegen solche Methoden und gegen das Verhandeln mit Schatten. Ein gesichtsloses Schattenboxen ist gleichzeitig immer auch ein rückgratloses. (Julya Rabinowich, Album, DER STANDARD, 19./20.5.2012)