Blicke und Bedürfnisse, die einander verfehlen: Margarethe Tiesel als Kenia-Urlauberin Teresa in Ulrich Seidls "Paradies: Liebe".

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Auch Matteo Garrones "Reality", der ein surreales Bild Italiens nach Berlusconi zeichnet, überzeugte.

Das österreichische Kino hat auf dem Filmfestival von Cannes einen Ruf zu verteidigen. Mit keinem anderen Filmland assoziiert man ein so beunruhigendes Starren auf menschliche Abgründe. Nun sind mit Michael Haneke und Ulrich Seidl die zwei zentralen Regisseure am Start, und beide beschäftigen sich mit einer ewigen Kampfzone des Menschen: der Liebe.

Paradies: Liebe, Seidls erster Teil seiner Trilogie um Frauen, stand am Freitag auf dem Programm und erntete bei der Presse freundlichen Applaus, dabei bietet der Film einigen Stoff für Kon troversen. Nah an seiner Hauptfigur, der 50-jährigen Teresa (Margarethe Tiesel), erzählt der Film von der Begegnung zweier unterschiedlicher Welten und Ökonomien, die mit dem Schlagwort Sextourismus zu allgemein umschrieben sind.

Als eine "möglichst realistische Wahrheitssuche" bezeichnete Seidl seine Arbeit bei der Pressekonferenz. Die zentrale Differenz darin betont er bereits mit der von strengen Symmetrien beherrschten Mise en Scène, die jede Begegnung von Frauen und Einheimischen in einem Ferienklub in Kenia mitbestimmt: auf der einen Seite westliche Touristinnen, auf der anderen Seite schwarze Beachboys, die ihre Waren, Dienste und Körper anbieten.

Groteske Wirklichkeit

Seidl ist bekanntlich kein Regisseur von dezenter Zurückhaltung, sondern jemand, der darauf vertraut, dass seine dokumentarisch geschulte Inszenierung eine zusätzliche Qualität des Realen erschließt, eine groteske Seite des Lebens, vor der man gerne die Augen verschließt. In Paradies: Liebe entsteht dies durch die Kombination von nackten Körpern mit Blicken und Bedürfnissen, die einander verfehlen. Nicht von ungefähr beschweren sich die Frauen an einer Stelle darüber, dass ihnen die jungen Männer nie tief in die Augen schauen. Auch der Film bildet vor allem ihre grausam-komische Perspektive ab.

Paradies: Liebe bliebe zu statisch und thesenhaft, würde er sich nur auf diese Gegenüberstellungen beschränken. Mit so etwas wie Erfahrungen reichert ihn erst Teresas Suche nach Zweisamkeit an - und es liegt nicht zuletzt an Margarethe Tiesel, dass dies auf äußerst überzeugende Weise gelingt. Die Szene, in der sie einem mechanisch an ihrem Busen reibenden Lover Nachhilfeunterricht erteilt, ist ein Höhepunkt des Films, weil sie dabei nicht abgeklärt, sondern neugierig und aufgeregt wirkt. Ambivalent bleibt diese Teresa dennoch, eine Gefangene ihrer Naivität, der mangelnden Reflexion dieses Tauschgeschäfts. Seidl zeichnet einen Weg nach, der in der Desillusionierung enden muss - eine in ihrem Irrwitz kaum zu überbietende Orgienszene erweist sich am Ende dementsprechend als Rohrkrepierer.

Leben als Reality-Show

Um Illusionen und ihre Macht über einen Menschen geht es auch in Matteo Garrones höchst bemerkenswertem neuen Film Reality. Luciano (Aniello Arena) ist Fischverkäufer in Neapel und quietschlebendiger Kopf einer typisch italienischen Familie. Außerdem hat er einen Hang zum Schauspiel. Als in einem Supermarkt ein Casting für die nächste Big Brother-Staffel abgehalten wird, probiert Luciano seinen Töchtern zuliebe sein Glück - und tatsächlich folgt daraufhin eine Einladung nach Rom zu einem Aufnahmetest.

Anstatt vom Aufstieg dieses Mannes in eine Welt des schnelllebigen Ruhms zu erzählen, dreht Garrone in seinem Film den Spieß jedoch auf raffinierte Weise um und entwirft eine Art Alternativszenario zur Truman Show. Was geschieht, wenn ein Mann seinen Alltag als einen einzigen Testlauf für eine ersehnte TV-Show erlebt? Wenn er in jedem Fremden plötzlich einen TV-Agenten vermutet, der seine Taten evaluiert? Die Antwort, die Reality darauf gibt, ist zuerst komisch, wird dann jedoch immer beklemmender: In einem solchen "Container" lässt es sich nicht mehr stimmig leben, weil jede Handlung zur Pose für einen unsichtbaren Dritten verkommt.

Nur an der Oberfläche ist Garrones Reality eine mit Temperament und ausladenden Kamerabewegungen inszenierte Satire im Stile der Commedia all'italiana; dahinter kommt die Tragödie eines erbarmungswürdigen Menschen zum Vorschein, der sich in falschen Träumen verrennt. Nicht zuletzt mit seinem Auge für disparate Schauplätze - von bizarr-hässlichen Malls und Bädern bis zur pittoresken Altstadt - zeichnet der Film ein surreales Bild des Post-Berlusconi-Italien, in dem das Alte und das Neue keine Einheit mehr bilden. Es wird für die Jury schwer werden, an diesem Film ganz vorbeizugehen. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 19./20.5.2012)