STANDARD: Frau Sabuschko, "Was wir von der Ukraine und Belarus kennen, sind vor allem die Länderkennzeichen der Lkws auf unseren Autobahnen", sagte der Schriftsteller Martin Pollack. Obwohl die Ukraine das größte Land Europas ist, weiß man im Westen über seine Geschichte und Kultur so gut wie nichts. Wie erklären Sie diese beschränkte Wahrnehmung?
Oksana Sabuschko: Sie ist bezeichnend für ein Land, das erst vor wenigen Jahren seine Unabhängigkeit erlangt hat. Zu deutlich sind immer noch die Zeichen der Abhängigkeit von Russland. Bis heute nimmt Russland an jeder ukrainischen Wahl teil. Die russische Regierung versucht Kandidaten, die mit der Politik des Kremls sympathisieren, in wichtige Positionen der ukrainischen Ämter zu bringen. Auch die Fähigkeit, sich nach außen zu präsentieren, stellte sich mit der bloßen Erlangung der Unabhängigkeit nicht von selbst ein. Moses habe sein Volk vierzig Jahre durch die Wüste getragen, sagt man in der Ukraine. Zwanzig dieser vierzig Jahre haben wir hinter uns. Wir befinden uns also auf der Hälfte des Weges.
STANDARD: Die Ukraine befinde sich in einer "postkolonialen Situation", äußerten Sie einmal. In wieweit spiegelt die ukrainische Gegenwartsliteratur das wider?
Sabuschko: Die beste Beschreibung dieser Situation gab einmal einer meiner Freunde, indem er sagte, in der Ukraine lebten die Menschen, die im Vorgestern lebten, in Nachbarschaft zu den Menschen, die im Übermorgen lebten, und häufig lebten sie sogar in derselben Straße oder im selben Wohnhaus. Diese Ungleichzeitigkeit hängt nicht nur mit den Generationen zusammen. Das ist ein sehr komplexes Amalgam. Die ganze ukrainische politische Klasse kommt aus den früheren sowjetischen Eliten, die in den 90er- Jahren im Geist des Cowboy- Kapitalismus mit dem neu aufgetauchten kriminellen Kapital gemischt wurden. Die Ukraine ist das Land, das von den Neureichen regiert wird. In der Literatur bestehen gewisse Tendenzen des kulturellen Widerstands gegenüber dieser Kultur der Neureichen.
STANDARD: Einigen wenigen ukrainischen Schriftstellern ist es in den letzten Jahren gelungen, ihre Bücher bei deutschsprachigen Verlagen zu platzieren. Wie repräsentativ sind diese Autoren für die ukrainische Gegenwartsliteratur?
Sabuschko: Die ukrainische Literaturszene ist gegenwärtig so reich und vielfältig, dass kein einzelner Autor für das ganze Land sprechen kann. Um die ukrainische Literatur wirklich bekanntzumachen, müssten viel mehr Schriftsteller übersetzt werden, insbesondere aus dem klassischen ukrainischen Erbe. Die Klassiker sind die Koryphäen der ukrainischen Literatur. Ohne sie ist auch das Bild der europäischen Literatur unvollständig.
STANDARD: Die klassischen ukrainischen Schriftsteller sind im Westen in der Tat völlig unbekannt ...
Sabuschko: Das ist schade. Ich empfinde das als eine große Lücke. Meine Lieblingsschriftstel lerin ist Lessja Ukrainka. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb sie etwa zwanzig Versdramen, die, beginnend mit dem Trojanischen Krieg, eine neue weibliche Version der europäischen Mythologie zeigen. Auch ist sie die Schöpferin des absolut besten Don-Juan-Dramas. Es trägt den Titel Der steinerne Herr, ein großartiges Stück über den Machtkampf zwischen Männern und Frauen, das unbedingt übersetzt werden sollte. Hinzu kommen weitere Schriftsteller dieser kurzen Renaissance in den 1920er-Jahren, als die Ukraine zwar kommunistisch war, sich aber als unabhängig betrachtete. Das war eine Periode ähnlich der Weimarer Republik. Und es gab damals Autoren, die uns wirklich helfen würden, das 20. Jahrhundert besser zu verstehen.
STANDARD: Sie wurden 1996 mit Ihrem Roman "Feldstudien über ukrainischen Sex" mit einem Schlag berühmt. Das Buch löste einen landesweiten Skandal aus ...
Sabuschko: Der Roman war das erste Buch, das offen Geschlechterthemen als ernsthafte Probleme der ukrainischen Gesellschaft ansprach. Dass ich all die Themen wie nationale Mentalität, Trauma oder die Frage, wer Opfer und wer Täter gewesen sei, in der Sprache weiblicher Körpererfahrung erörterte, war bis dahin etwas absolut Undenkbares gewesen. Das war der eigentliche Skandal. Denn das bedeutete eine Veränderung der ganzen Kultur. Ich habe den patriarchalischen Kanon unterminiert, der die ukrainische Literatur zur Sowjetzeit beherrschte. Es war ein erster Schritt zur Entsowjetisierung.
STANDARD: 2010 kam nun auch Ihr gewaltiger Roman "Museum der vergessenen Geheimnisse" auf Deutsch heraus. Wie geht die Literatur mit den "vergessenen" Geheimnissen der ukrainischen Geschichte um?
Sabuschko: Etwas ist uns gegenwärtig in Europa allen gemeinsam. Ich kann an keine Nation denken, die am Zweiten Weltkrieg teilnahm und die nicht irgendwelche vergessenen, aufgegebenen oder versteckten Geheimnisse hätte. Für mich ist es sehr bemerkenswert, dass erst in den letzten Jahren die neue Generation von Schriftstellern begann, sich mit diesen Lücken und diesen dunklen Ecken im kollektiven Gedächtnis zu befassen. Im Fall der Ukraine kommt hinzu, dass uns die Sowjets mit den meisten Geheimnissen zurückgelassen haben. Bis 1991 existierte das Fach ukrainische Geschichte nicht. Selbst über die folgenschwersten Ereignisse, die bis heute das Schicksal der Nation bestimmen, wie etwa Holo domor, diese künstlich erzeugte Hungersnot von 1933, oder diese Widerstandsbewegung in der Westukraine von den späten 30er- bis zu den späten 50er-Jahren, die bis heute von den Historikern kontrovers betrachtet wird, gibt es kaum Studien. Sie werden in eine Dimension der Nichtexistenz verwandelt.
STANDARD: Bei der Erarbeitung des Romans sind Sie vorgegangen wie eine Historikerin. Sie haben in Archiven geforscht, historisches Material gesichtet und Zeitzeugen befragt ...
Sabuschko: Mir geht es aber nicht nur darum, was geschieht, sondern wie es von den Personen erfahren wird. Mein Roman handelt auch von denen, die ihn erzählen. Darum verändere ich in ihm die Erzähler. Es ist eine Geschichte, die drei Generationen einer Familie umfasst und jedes Mitglied sieht seinen Teil der Geschichte. Aus der Informationstheorie wissen wir, dass eine Information nicht nur vom Sender abhängt, sondern auch vom Empfänger. Das heißt, es liegt beim Leser, all die Teile und Trümmer dieser verschiedenen Geschichten, die von den einzelnen Charakteren erzählt werden, zusammenzufügen, um die ganze Geschichte zu sehen. Auf diese Weise versetze ich den Leser in die Position, die im 19. Jahrhundert der Autor hatte, die Position Gottes, der alles weiß und die ganze Geschichte kennt.
STANDARD: In Ihrem Essayband "Planet Wermut" schreiben Sie: "Wenn Erinnerungen kein ausreichend überzeugendes kulturelles Gegenstück finden, sei es in Büchern oder Filmen ..., dann verschwimmen die Erinnerungen im Fluss der Zeit ..."
Sabuschko: Das betrifft die Frage, woran wir uns erinnern. Erinnern wir uns an das, was wir wirklich erlebt haben, oder an das, was uns erzählt wurde, oder an das, wozu uns die herrschende Kultur veranlasste. Der einzige Weg, dem Auslöschen von Erinnerung Widerstand zu leisten, besteht darin, den Geschichten in den Familien nachzugehen. Dank der Großeltern, die diese Geschichten geheimnisvoll flüsternd ihren Enkeln erzählen, kommt dann zum Beispiel heraus, dass es 1933 in jeder Familie einen Verhungerten gab. Die Literatur befasst sich immer mit Erinnerungen. Der Schriftsteller schaut zurück. Man nimmt von ihm an, dass er ein gutes Gedächnis hat. Damit tritt er den offiziellen Lügen und dem Verschweigen entgegen.
STANDARD: Welche Bedeutung für die Literatur kommt dem weitgehenden Verlust der ukrainischen Sprache zu, deren Gebrauch im Russischen Reich 200 Jahre offiziell und in der Sowjetunion halboffiziell verboten war?
Sabuschko: Es ist sogar noch komplizierter. Man kann nicht sagen, dass das Ukrainische im Russischen Reich verboten war. Es war ab 1863 offiziell für den kulturellen Gebrauch verboten, als Literatursprache. Die ukrainische Literatur wurde während dieses letzten halben Jahrhunderts des Russischen Reichs im Ausland veröffentlicht, das heißt, im westlichen Teil der Ukraine, der damals zu Österreich-Ungarn gehörte, und heimlich in die Ukraine hineingeschmuggelt. Das war eine lange Geschichte der sprachlichen Opposition und des sprachlichen Überlebens. Zu Sowjetzeiten war das Ukrainische nie offiziell verboten. Stattdessen fand ein langer Kampf statt, es ins Abseits zu schieben. In der Ukraine und in Weißrussland herrschte eine gutausgearbeitete Zensur innerhalb der Sprache.
STANDARD: Und wie wirkte sich das auf die ukrainische Literatur aus?
Sabuschko: Sprachliche Zensur macht es unmöglich, Prosa zu schreiben. Man kann keine Prosa schreiben, wenn alle Formen der gesprochenen Sprache verboten sind, wenn es nicht erlaubt ist, in der direkten Rede die Sprache von der Straße zu verwenden, oder wenn gewisse Worte nicht benützt werden dürfen. Es gab damals Listen mit Wörtern, die durch Synonyme ersetzt werden sollten, die ähnlich wie das Russische klangen. Sehr wenig von dem, was in den Sowjetzeiten an ukrainischer Prosa geschrieben wurde, verdient es, Literatur genannt zu werden.
STANDARD: Sie erwähnen, dass im sowjetischen Imperium die überwiegende Mehrzahl der Menschen in den ukrainischen Städten sogenanntes Surschik sprach. Wurde dieses Surschik auch als Literatursprache verwendet?
Sabuschko: Surschik ist immer noch die Sprache, die in den ukrainischen Städten gesprochen wird. Es ist ein interessantes sprachliches Phänomen. Man könnte es vergleichen mit dem Pidgin-Englisch, das in den früheren Kolonien wie etwa den karibischen Inseln gesprochen wird. Es ist eine koloniale Version, eine Mischung aus Russisch und Ukrainisch. Gesprochen wird es von denen, die in der zweiten oder dritten Generation russifiziert wurden, hauptsächlich von Ungebildeten. Aber es hat auch Einfluss auf die normale Alltagssprache. In die Literatur wurde Surschik erst nach 1991 eingeführt. Das Aufblühen der zeitgenössischen ukrainischen Literatur, das in den 90er-Jahren begann und das die ukrainische Literatur so kraftvoll und energiegeladen werden ließ, resultiert nicht aus der politischen Freiheit, sondern aus der plötzlichen sprachlichen Freiheit. Die Schriftsteller erhalten Zugang zu all den Schätzen, die die ukrainische Sprache bieten kann.
STANDARD: Gibt es in der Ukraine einen nennenswerten Einfluss der Intellektuellen und Schriftsteller auf Politik und Gesellschaft?
Sabuschko: Ich bin versucht zu sagen, überhaupt nicht. Aber dann kommen mir die Listen der hundert einflussreichsten Persönlichkeiten des Landes in den Sinn, die jährlich von Magazinen wie Ukrainian Weekly erstellt werden und auf denen ich unter Politikern und Geschäftsleuten regelmäßig auch meinen Namen finde. Ich weiß nicht, wie diese Ratings erstellt werden, und lache darüber. Da es sich jedoch immer wiederholt, muss etwas dahinter sein. Die Schriftsteller finden wahrscheinlich in der Ukraine mehr Gehör als im Westen. Westliche Schriftstellerkollegen in der Ukraine bekommen ihren ersten kulturellen Schock, wenn sie sehen, wie viele Zuhörer literarische Lesungen besuchen. Ein Teil dieser Zuhörer sind Leser, literarische Fans. Ein anderer Teil kommt, um mir Fragen zur politischen Situation des Landes zu stellen. Wahrscheinlich ist das der fehlenden Glaubwürdigkeit der Politiker geschuldet. Man betrachtet mich als "moralische Autorität", und ich muss, wie ich manchmal ironisch sage, die ganze Zeit die Nation retten. (Adelbert Reif, Album, DER STANDARD, 19./20.5.2012)