München - Am Hauptbahnhof wird auf jeder Werbetafel auf das Finale hingewiesen. Im Frühstücksfernsehen schmeckt dem Moderator die bayerische Brotzeit mit Weißwurst, Brezn und Bier deutlich besser als die gebackenen Bohnen ("grauslich"). Und auf dem Marienplatz vor dem Rathaus wird das Eis in Bayern-Rot öfter gekauft als in Chelsea-Blau.
In ganz München wird für das "Finale dahoam" Stimmung gemacht, der Fantasie der Bürger und Fans sind keine Grenzen gesetzt. Dass die Bewohner der Innenstadt "rot-weiße Bettlaken aus dem Fenster hängen oder ihrem Dackel ein rot-weißes Leibchen überziehen", wie sich das Bayern Münchens Marketingexperte Andreas Jung wünscht, wurde am Vortag des großen Endspiels aber noch nicht erfüllt. Die Isar rot-weiß einzufärben, haben sich Bayerns Verantwortliche auch nicht getraut.
Der Andrang ist groß
Für die Stadt ist das Finale der Champions League zwischen Bayern und dem FC Chelsea das größte Spektakel seit der Heim-WM 2006. Alleine 30.000 Anhänger werden aus England erwartet, nur rund die Hälfte hat für das seit Wochen restlos ausverkaufte Match Tickets. In der Stadt sollen sich am Samstag 150.000 Fans bei Public-Viewing-Events im ausverkauften Olympiastadion (65.000) und auf der Wies'n (30.000), in Biergärten und in den Bars tummeln. Die wenigen noch verfügbaren Zimmer sind derart begehrt, dass teilweise das Fünffache des normalen Preises verlangt wird.
Nicht weniger skrupellos geht es am Schwarzmarkt zu. Zwei Matchkarten - im regulären Verkauf kosteten sie zwischen 70 und 370 Euro - haben auf eBay um knapp 4500 Euro den Besitzer gewechselt. Wird der Käufer der personalisierten Karten bei Zufallskontrollen erwischt, kann er sich das Match im Stadion aber aufzeichnen.
"Da sitzen wir jetzt", sagte ein relaxter Philipp Lahm bei der finalen Pressekonferenz vor dem Finale, und verspürte "Riesenfreude". Erstmals in der Geschichte der Champions League hat ein Verein die Chance, den größten europäischen Klub-Titel im eigenen Stadion zu holen. Im Vorgängerbewerb Meistercup schaffte das zuletzt Inter Mailand 1965, die AS Roma scheiterte 1984 im heimatlichen Stadio Olimpico gegen Liverpool. "Für mich ist es wirklich ein Finale dahoam", sagte der 27-jährige Kapitän, der in München geboren und aufgewachsen ist.
Der Glaube ist groß
Für die Bayern gilt es, den dritten "zweiten Platz" nach den Niederlagen in der Meisterschaft und im Pokal zu verhindern. "Schaffen wir es nicht, wäre ich enttäuscht", sagte Bastian Schweinsteiger. Die Finalpleite (0:2) gegen Inter Mailand 2010 ist den Bayern noch in allzu schlechter Erinnerung. Damals waren die Münchner als Meister und Pokalsieger nach Madrid gereist. Lahm: "Der Glaube an den Titel ist diesmal viel, viel größer." Es wäre der fünfte Triumph in der Meisterklasse, der vierte wurde 2001 gegen Valencia im Elferschießen gewonnen.
Trainer Jupp Heynckes muss seine Defensive umstellen, für die gesperrten David Alaba und Holger Badstuber rücken wohl Diego Contento und Anatoli Timoschtschuk nach. Thomas Müller könnte die Offensive verstärken, für Luiz Gustavo spielt Toni Kroos im defensiven Mittelfeld. Arjen Robben, der am Donnerstag das Training abbrach, sorgt für kein Kopfzerbrechen. "Ich gehe davon aus, dass er spielt", sagte Heynckes, der von einer "historischen Chance" für Bayern sprach. "Es wird Zeit", sagte Robben selbst. "Diese Champions League muss man einmal im Leben gewinnen."
Bei Chelsea fehlen inklusive Kapitän John Terry, der im Halbfinale gegen den FC Barcelona die Rote Karte sah, vier Spieler. Der Traum vom ersten Titel in der Champions League, den Klubchef Roman Abramowitsch seit 2003 mit rund einer Milliarde Euro nährt, soll dennoch Realität werden. "Wir schulden ihm diesen Cup", sagte Frank Lampard. "Mit dem Spirit, den wir in Barcelona gezeigt haben, ist ein Sieg möglich." Dann wäre auch das Finaltrauma 2008 ausgemerzt. Damals waren die Londoner in Moskau Manchester United im Elfmeterschießen unterlegen. (David Krutzler, DER STANDARD, 19./20. Mai 2012)