Anfang Juni 2012. Neuwahlen und die Ankunft der Kontrolleure von EU, IWF und EZB in Griechenland stehen bevor. Letztere werden weitere Zahlungen einstellen lassen, da die Griechen nicht mehr bereit und in der Lage sind, weitere 12 Milliarden an Einsparungen zu akzeptieren. Ende der Zuführung der benötigten Hilfsmittel (fast 30 Milliarden Euro per Ende Juni). Diesem Szenario gilt es zuvorzukommen. Der erste Montag im Juni ist der Beginn einer heißen Woche, nachdem davor die EU bei einem Blitztreffen am Nordkap beschlossen hatte, das Problem radikal zu lösen: Die Griechen werden vor geschlossenen Banken und toten Bankomaten stehen. Dazu lückenlose Grenzüberwachung und Zahlungsverkehrskontrolle. Eine Woche für den Ausstieg aus dem Euro. Vor den geschlossenen Bankportalen Tumulte, Panik in den Straßen. Die Polizei steht spontanen Demos und Plünderungen hilflos gegenüber. Das Militär erwägt einzugreifen. Das Déjà-vu als vorherrschende Gefühlslage der Griechen.

Noch ist das Fiktion. Im Gegensatz zu diversen Apokalypsen jedoch eine realistische: Griechenland verlässt die Währungsunion, zurück zur Drachme. Die umlaufenden Euroscheine werden eingezogen, die Geldkonten eingefroren. Aus Euro wird Drachme, dabei wird das Bargeld entwertet - klassische Währungsreform - die Löhne um 50 Prozent reduziert, die Tilgung der Staatsschulden eingestellt. Griechenland ist auch offiziell pleite und könnte den Neustart mit dem wirtschaftspolitischen Instrumentarium eines Weichwährungslandes wagen.

Es muss nicht so kommen, aber vieles spricht dafür - etwa die dauernden Beteuerungen, es komme nicht so weit. Im Lauf der "Finanz"-Krise sind viele heftig dementierte Vorhersagen eingetreten: Alle Euroländer haften, wir sind im Transfer zur Transferunion, der Rettungsschirm wurde erweitert, die Krise ist ungelöst. Europa in der heutigen "Verfassung" ist zu schnellem, demokratisch legitimiertem Handeln nicht in der Lage, weil 27 Länder einen Kompromiss finden und national beschließen müssen. So ist Krisenbekämpfung unmöglich: Eine Währungsunion ohne politische Union ist nicht praktikabel. Der Wahlsonntag vom 6. Mai 2012 war ein historischer Tag. Nun ist klar: Europas Bevölkerung ist nicht bereit, Leute zu wählen, denen die konkreten Lebensumstände der Menschen egal sind. Das neoliberale Experiment ist an den Wahlurnen endgültig gescheitert. Bloß: was jetzt?

Die Wahlergebnisse zeigen, dass Rettungsaktionen, bei denen dem Ertrinkenden die Rettungsleine nicht um den Körper, sondern um den Hals geschlungen wird, keine Mehrheit finden. Griechenland wird die Währungsunion verlassen, und es wird nicht jene Katastrophe sein, die herbeigeredet wird. Das versprochene bessere Leben in zwanzig Jahren ist keine Alternative, denn wie Keynes anmerkte: In the long run we are all dead.

Das Dilemma, in das uns die falsche Konstruktion der Eurozone gestürzt hat, ist der eigentliche politische Skandal. Die Frontstellung zwischen Anhängern von Keynes und Austerity-Fans ist sinnentleert und liefert keine Hinweise auf mögliche Vorgangsweisen, ein Mix aus beiden Weltsichten auch nicht. Wer behauptet, die Lösung zu kennen, ist ein Scharlatan. Wir befinden uns in einem ökonomischen Feldversuch, dessen Ausgang niemand kennt, eine Art Experimentalökonomie. Wir wissen nicht, ob extreme Sparpolitik in ein paar Jahren zur ökonomischen Gesundung führt. Wir wissen nicht einmal, ob sich diese Krise wirklich mit jener der 1930er-Jahre vergleichen lässt.

Die bisherigen Ereignisse in Griechenland und Spanien und die Geschichte sprechen dagegen, dass konsequentes Sparen Volkswirtschaften saniert. Genauso unklar ist allerdings, ob Wachstumsstrategien geeignet sind, uns aus der Krise zu führen. Unabhängig von der Finanzierbarkeit stellt sich nämlich eine ganz andere Frage: Wo und wie soll dieses Wachstum und die Arbeitsplätze eigentlich geschaffen werden? In der Autoindustrie? Im Dienstleistungssektor? Wo ist die Killerinnovation, in die das überflüssige Kapital der Finanzmärkte realwirtschaftlich investiert werden könnte? Flachbildschirme, Handys und Blu-Ray-Player?

Investitionen in die Infrastruktur sollen einen Wachstumsschub bringen (Kurt Bayer am Mittwoch im Standard)? Wir sind gerade dabei, als Folge der Privatisierung oder der Schuldenbremse Infrastrukturen (Post, Bahn, Spitäler) zu zerstören. Investitionen in neue Infrastrukturen ziehen meist neue Staatsausgaben nach sich. Ob sie wirklich Wachstum generieren (Semmeringtunnel) ist fraglich, ebenso ob Wachstum in der gegenwärtigen Krise überhaupt hilft. Wie kann man Länder reindustrialisieren? Rückholung der Produktionsstätten aus China, damit dieses nicht dank Billigproduktion (=Lohn- und Sozialdumping) die Weltmärkte überschwemmen kann? Das würde ein Abgehen vom Fetisch des unbegrenzten Freihandels verlangen. Politisch realistisch angesichts der Dollarbilliarden, die von China gehortet werden?

Wie auch immer: diese Krise wird und muss in Inflationierung münden (= gleitender Schuldenschnitt). Es ist zu viel Geld am Markt. Alle bisherigen Maßnahmen haben die Geldmenge erhöht, ohne dass davon etwas in die Realwirtschaft, in wertschöpfungsfähige Investitionen geflossen wäre.

Die Inflationierung wird kommen, weil das der politisch einfachste Weg ist, die aus der EZB abgeflossenen Gelder zurückzuholen. Dabei kommen als "Neben"-Effekt jene Altersvorsorgen unter die Räder, die man uns als Ultima Ratio eingeredet hat: die privaten, kapitalgedeckten Pensionsversicherungen.

Für die Politik ist diese Lösung die angenehmste: es bedarf dazu keiner Beschlüsse, keiner Entscheidungen, niemand ist verantwortlich, die großen Vermögen (deren Basis immer Realbesitz ist) bleiben weitgehend ungeschoren. Nur die Ersparnisse der kleinen Leute sind weg. Unsere Großeltern haben das im vorigen Jahrhundert drei Mal mitgemacht. Jetzt sind wir an der Reihe.  (Michael Amon, STANDARD; 19./20.5.2012)