Mit dem Gipfeltreffen in Chicago läutet die NATO die letzte Etappe ihres Kampfeinsatzes in Afghanistan ein. Bis Mitte 2013 sollen die ISAF-Truppen die Verantwortung für die Sicherheit auch der letzten Provinz in Afghanistan an die heimische Armee und Polizei abtreten. Die ausländischen Soldaten sollen dann die einheimischen Kräfte unterstützen und ausbilden. Die ausländischen Kampftruppen werden nach und nach das Land verlassen. Geklärt werden muss noch, wie die afghanischen Sicherheitskräfte ab dann finanziert werden.
Georg-Sebastian Holzer, der über zwei Jahre als sicherheitspolitischer Berater in Afghanistan tätig war, beantwortete derStandard.at via E-Mail Fragen zu Entwicklungen in der Vergangenheit und Zukunftsszenarien in Afghanistan.
derStandard.at: Am Sonntag begann die Afghanistan-Konferenz in den USA. In den letzten 10 Jahren gab es zahlreiche solcher Treffen. Machten diese Konferenzen jedoch einen großen Unterschied in Afghanistan? Brachten Sie Resultate, die den Verlauf in Afghanistan im letzten Jahrzehnt merkbar veränderten?
Holzer: Ziel des NATO-Gipfels in Chicago ist ein gesichtswahrender Abzug aus Afghanistan. Deshalb geht es nun weniger um Afghanistan selbst, als um die Abwicklung des Abzugs für die NATO. Dem liegt die Erkenntnis zu Grunde, dass die diffusen Ziele des Afghanistan-Einsatzes unrealistisch waren und die Gefahr des internationalen Terrorismus in der Region weniger vom Hindukusch als von Pakistan ausgeht. Die gröbsten Fehler wie beim Abzug der Sowjetunion will man vermeiden und dem Land weiter Hilfe zukommen lassen. Ausdruck dessen ist die offizielle Unterzeichnung des strategischen Partnerschaftsabkommens zwischen Präsident Obama und Karzai.
Es scheint mir das Beste zu sein, was die Obama-Regierung unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen für die eigenen außenpolitische Glaubwürdigkeit im Wahlkampf genauso wie für Afghanistan realistisch unterbreiten konnte. Letztlich handelt es sich dabei um eine Zusage eines weiteren Engagements über 2014 hinaus ohne konkrete Zahlen und Details zu nennen. Der NATO selbst hat der durchaus schwierige Afghanistan-Einsatz Zusammenhalt und ein gemeinsames Ziel gegeben. Nun muss man sicher wieder der Sinnfrage stellen was die Allianz leisten kann und will.
derStandard.at: Das vergangene Jahrzehnt wurden Milliarden nach Afghanistan gepumpt, auch in zivile Projekte. Ist das bei der Bevölkerung merkbar angekommen?
Holzer: Ja und nein. Es gibt ein sehr großes Unbehagen in der afghanischen Bevölkerung, die sich fragt wo denn die vielen Milliarden an zivilen Entwicklungsprojekten geblieben sind. Es ist interessant zu sehen, welcher Anteil dieser Gelder in der Abwicklung, der Selbstverwaltung und dem Salär für internationale Mitarbeiter fließt. Ich will hier keine alte entwicklungspolitische Debatte neu entfachen, doch gelten unter Kriegsbedingungen zweifelsohne nochmals andere Bedingungen als im klassischen Entwicklungskontext. Staatliche Entwicklungsgelder müssen ausgegeben werden, damit das Engagement nicht rein militärisch ausfällt – die Absorptionskapazität dieses Geldes in Afghanistan selbst ist sekundär.
Der Mittelabfluss – das englische Wort "burn rate" verdeutlicht es vielleicht besser – steht mithin im Zentrum. Positiv ist trotzdem festzuhalten, dass sich auch sichtbar einiges entwickelt hat in den letzten Jahren. Der Straßenbau ist dabei vielleicht das offensichtlichste Beispiel. Der Bauboom in Kabul ist hingegen vor allem von den Individuen ausgelöst, die übermäßig von der ausländischen Präsenz profitierten. Seit der Ankündigung des Truppenabzugs Ende 2014 gibt es jedoch große Angst vor einer wirtschaftlichen Stagnation, was sich nicht zuletzt schon in einem Einbruch der Immobilienpreise in der Hauptstadt niedergeschlagen hat. In Ermangelung einer eigenen produktiven Wirtschaft, die auch in den letzten 10 Jahren nicht angestoßen wurde, ist das Land besonders fragil. Der Wegbruch der Aufträge von Seiten des internationalen Militärs wird sich spürbar auswirken.
derStandard.at: Im Westen herrscht großes Unverständnis für die Taliban. In einigen Teilen Afghanistans erfreuen sich die Taliban allerdings großer Unterstützung. Warum?
Holzer: Vereinfacht gesagt sind die Taliban Teil Afghanistans und die westliche Perzeption greift auch hier zu kurz. Ein Beispiel: nichts stößt auf mehr Unverständnis im Westen, als die drakonische Rechtsprechung der Taliban. Gleichwohl ist es gerade diese Rechtsprechung, die in weiten Teilen ländlicher Gebiete Südafghanistans den Taliban die größte Legitimität verschafft. In Ermangelung einer staatlichen (nicht völlig korrupten) Ordnungsmacht sind in diesem Fall die Taliban die einzige Institution, die in den Gebieten unter ihrer Kontrolle relativ transparent für Ruhe und Ordnung sorgt. In Gebieten mit umkämpften Einfluss, wie beispielsweise in Teilen des Nordens, üben die Taliban ihre Herrschaft hingegen meist über Einschüchterung und Terror gegenüber der lokalen Bevölkerung aus.
derStandard.at: Das Afghanistan NGO Safety Office veröffentlichte vergangenen Monat Zahlen, die besagen, dass die Angriffe von Aufständischen im ersten Quartal erstmals seit Jahren um 43 Prozent zurückgegangen sind. ANSO sprach auch davon, dass dieser Rückgang das erste Anzeichen einer Regression im afghanischen Konflikt sei. Afghanische Politiker meinten jedoch, dass der Rückgang nicht bedeutet, dass sich die Taliban zurückgezogen hätten. Wie sind diese Zahlen zu interpretieren?
Holzer: Dieser Trend hat sich schon letztes Jahr abgezeichnet, wenngleich dieser überaus hohe Prozentsatz, dem überdurchschnittlich kalten Winter geschuldet ist. Ich werte die Zahlen nicht als Regression sondern als strategische Zurückhaltung der bewaffneten Opposition. Mit der Ankündigung über den ISAF Rückzug 2014 haben alle afghanischen Akteure begonnen sich auf den Tag X auszurichten. Dementsprechend macht es für die bewaffnete Opposition wenig Sinn ihre Kräfte in der verbleibenden Zeit über Gebühr zu verheizen. Ein größeres Augenmerk wurde seither auf die gezielte Tötung von einflussreichen Personen gelegt, die den Taliban in der post-2014 Zeit zur Gefahr werden können. Letztlich handelt es sich beim Krieg in Afghanistan mehr denn je um einen Kampf der Wahrnehmung. Dem sind auch die zuletzt großen komplexen und für die mediale Wiedergabe inszenierten Angriffe in Kabul geschuldet.
derStandard.at: Der Rückgang der Gewalt erfolgt auch zu einer Zeit, in der es so scheint, als ob es innerhalb der Taliban zu größeren Friktionen gekommen ist. Vollzieht sich eine Spaltung innerhalb der Taliban und hängt die Exekution von 25 bekannten Taliban-Mitgliedern damit zusammen.
Holzer: Bei den Taliban handelt es sich nicht um eine monolithische Bewegung, wie dies oft dargestellt wird. Deshalb spreche ich auch lieber von der bewaffneten Opposition im Allgemeinen. Sie vereint zum Großteil, dass sie Mullah Omar als ihren geistigen Führer anerkennen. Über den Zustand des obersten Entscheidungsgremiums der Taliban, der Quetta Shura, kann man nur spekulieren. Klar scheint, dass die alternde Führung die über jahrzehntelange Kriegserfahrung verfügt offener für eine politische Lösung des Konflikts ist, als dies mit einer jüngeren Führung der Fall wäre. Die Ausschaltung der mittleren Führungsebene der Insurgenz führte ohne Zweifel zu einer Schwächung der Steuerungsfähigkeit der bewaffneten Opposition in den Provinzen und Distrikten. Auch bringt die Öffnung für Verhandlungen mit den Amerikanern die Taliban unter Zugzwang gegenüber ihren eigenen Anhängern, die freilich auch schwerer für den Kampf zu motivieren sind, wenn ihre oberste Führungsebene auf einmal offiziell Gespräche mit dem Erzfeind beginnt.
Die Politik der USA kann auch dahingehend interpretiert werden, dass der Verhandlungsprozess in Kombination mit taktischen Erfolgen im Kampfgebiet dazu benutzt wird, die ohnehin schon komplexe bewaffnete Opposition zu spalten und damit langfristig zu unterminieren. Dies würde ich jedoch für eine verfehlte Strategie halten, da es die eigentliche Triebfeder für die bewaffnete Opposition verkennt. Diese geht eben nicht von der Führungsebene aus, sondern liegt in der Opposition gegen eine Zentralregierung die als völlig korrupt, ineffektiv und deshalb illegitim erachtet wird genauso wie gegen die ausländischen Truppen die als Besatzungsmacht angesehen werden.
derStandard.at: Derzeit gibt es Versuche mit den Taliban zu verhandeln. Wie könnte eine Einigung mit den Taliban aussehen. Welche Bedingungen müssten erfüllt sein, damit die Taliban einer politischen Lösung für Afghanistan zustimmen?
Holzer: Die Geschichte zeigt, dass Verhandlungslösungen von offenen Konflikten im besten Falle Jahre benötigen und durch Rückschläge geprägt sind. Die Eröffnung eines Taliban Büros in Katar als Anlaufstelle für Verhandlungen war richtig und öffnet den Taliban die Möglichkeit ohne direkte Kontrolle Pakistans zu agieren. Derzeit befinden wir uns am Beginn der Phase vertrauensbildender Maßnahmen.Eckpunkte einer politischen Lösung die sowohl Minimalforderungen der USA und der Taliban umfassen, sind:
1. Ein kompletter Rückzug der US Truppen nach einem fixierten Zeitplan;
2. Der Ausschluss von Al-Kaida oder ihr nahe stehende Gruppen in den von den Taliban kontrollierten Gebieten;
3. eine Regierung in Kabul die von Personen vertreten wird die in den Augen der Taliban gute Muslime und afghanische Patrioten sind;
4. eine Neuverhandlung der afghanischen Verfassung mit den Taliban sowie eine Dezentralisierung des Staatswesens;
5. die de-facto, wenn auch nicht de-jure, Taliban-Kontrolle des Südens sowie Haqqani-Kontrolle des Südostens Afghanistans;
6. denkbar, dass man auf das Taliban Angebot von 1999-2001 eines kompletten Opium Anbau Verbots zurückkommt, im Gegenzug für Entwicklungshilfezusagen.
derStandard.at: Zuletzt häuften sich Vorfälle, bei denen Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte NATO-Soldaten attackierten. Es herrscht teilweise großes Misstrauen gegenüber dem afghanischen Sicherheitsapparat, nicht nur von Seiten der ISAF sondern vor allem von Seiten der afghanischen Bevölkerung. Warum?
Holzer: Zu Ihrer letzten Frage: Es sollte im regionalen Kontext nicht verwundern, dass die afghanischen Sicherheitskräfte von der Bevölkerung selbst immer noch großteils als Bedrohung wahrgenommen werden. Sicherheitskräfte als "Freund und Helfer" bleiben bis dato im weltweiten Vergleich wohl eine – zweifelsohne erstrebenswerte – Ausnahmeerscheinung. Die so genannten "green-on-blue attacks" bei denen afghanische Sicherheitskräfte die internationalen Koalitionskräfte (meist in ihrer Funktion als Ausbilder) angreifen sind zuletzt dramatisch gestiegen. Dabei handelt es sich um eine äußerst effektive Methode das "Partnering", also die Kernstrategie zur Absicherung der Übergabe der Sicherheitsverantwortung an die afghanische Seite, zu unterminieren untergraben.
Das Misstrauen gegeneinander ist mittlerweile so groß, dass effektive Zusammenarbeit oft nicht mehr möglich ist. Die bewaffnete Opposition schreibt sich alle diese Vorfälle auf die eigenen Fahnen, doch vieles weißt darauf hin, dass ein großer Teil solcher Angriffe persönlich motiviert sind. Aus meiner Sicht ist das viel problematischer, denn es ist ein Indikator über das Ausmaß der individuellen Ablehnung der internationalen militärischen Partner innerhalb der afghanischen Sicherheitskräfte.
derStandard.at: Die Rolle der Nachbarstaaten in Afghanistan ist nicht immer klar: Elemente des pakistanischen Geheimdienstes ISI unterstützen die Taliban. Welche Interessen verfolgt der Geheimdienst und die pakistanische Führung in Afghanistan und wie könnte es zu einer Stabilisierung Afghanistans beitragen? Hat Pakistan überhaupt ein Interesse an einer Stabilisierung Afghanistans?
Holzer: Pakistan sieht Afghanistan weiterhin als strategische Tiefe im Kontext des eigenen Konflikts mit Indien. Präsident Karzei wird dabei als Indien nahestehend wahrgenommen. Die ehemalige Nordallianz wird zweifelsohne auch von Indien unterstützt, weshalb Pakistan fürchtet von Indien umzingelt zu werden. Dieser Logik folgend setzt Pakistan, im Speziellen Teile des ISI die politisch relativ autonom agieren, auf seinen Einfluss gegenüber den paschtunisch dominierten Taliban, deren Führung in Pakistan selbst sitzt. So kann man eine direkte Linie vom Kashmir-Konflikt zur Instabilität in Afghanistan ziehen. Doch das ist keine neue Erkenntnis. Tragisch ist vielmehr, wie wenig seit 2001 unternommen wurde um diese Logik zu durchbrechen, mithin an einer Annäherung von Pakistan und Indien zu arbeiten.
derStandard.at: Die USA werfen dem Iran Unterstützung der Taliban vor. Wieso unterstützt ein schiitisches Regime eine sunnitische Bewegung? Welche Interessen verfolgt der Iran in Afghanistan?
Holzer: Der Iran sieht Afghanistan als seinen Hinterhof und verfolgt vereinfacht gesagt zwei völlig konträre Interessen am Hindukush. Einerseits ist der Iran klar an einer Stabilisierung seines Nachbarlands und speziell dessen angrenzender und ebenfalls schiitisch dominierter Westregion Herat interessiert. Iran hat ein starkes Interesse daran all die negativen spill-over Effekte wie Drogen und Kriminalität und Konflikt beendet zu wissen. Darüber hinaus möchte man die afghanischen Flüchtlinge in ihr Heimatland zurückschicken und im besten Falle konstruktive Wirtschaftsbeziehungen mit Afghanistan als Absatzmarkt iranischer Produkte – vor allem iranisches Erdöl – pflegen.
Die Taliban als sunnitische Bewegung sind ein natürlicher Feind und man sollte nicht vergessen, dass Iran 1998 kurz davor stand das Taliban Regime selbst zu stürzen, nachdem 9 iranische Diplomaten von Taliban im iranischen Konsulat in Mazar-e-Sharif getötet wurden.
Andererseits sieht sich der Iran von US-Basen umzingelt und möchte die US-Kräfte in Afghanistan gebunden wissen. Schon jetzt werden beispielsweise ein großer Teil der amerikanischen Drohnen-Operationen über dem Iran von der Shindand Air Base in Herat gestartet. Dementsprechend setzt der Iran auf eine teilweise Unterstützung nicht nur ihr nahestehender inner-afghanischer Gruppen sondern eben auch der Taliban.
derStandard.at: Welche Szenarien sehen Sie für die Zeit nach 2014 in Afghanistan? Besteht die Möglichkeit, dass das Land – wie in den 90er Jahren – in einem Bürgerkrieg stürzt?
Holzer: Mittelfristig halte ich ein bürgerkriegsähnliches Szenario für wahrscheinlich, jedoch wird sich dieses von dem offenen, landesweiten Bürgerkrieg der 1990er Jahre, der selbst in den urbanen Zentren wie Kabul äußerst tödlich ausgefochten wurde, meiner Ansicht nach unterscheiden. Ich halte einen Bürgerkrieg vergleichbar mit jenem in Somalia für wahrscheinlich, in dem es zu einer Kantonisierung des Landes kommt, externe Akteure ihre jeweiligen Verbündeten unterstützen und der Konflikt sich an den Grenzen von einzelnen, in sich relativ stabilen und sehr unterschiedlich regierten Regionen, entfacht.
Mit der Abnahme externer Ressourcen durch den ISAF-Rückzug wird das derzeitige Klientelsystem zunehmend fragiler. Hinzu kommen verstärkte ethno-politische Spannungen, die beispielsweise in Teilen des Nordens mit dem ISAF Abzug viel deutlicher als bisher offen zu Tage treten werden. Eine Zentralregierung wird nominell im Raum Kabul am Leben gehalten werden um weiterhin Zugang zur strategisch bedeutenden Militärbasis in Bagram zu haben. Ein Islamisches Emirat von Afghanistan, dem Endziel der Taliban, halte ich derzeit für ausgeschlossen. (Stefan Binder, derStandard.at, 21.5.2012)