Cannes - Die internationale Presse ist sich weitgehend einig: Bei den Filmfestspielen in Cannes "regieren die Österreicher", fasste "Die Welt" angesichts der beiden starken Wettbewerbsbeiträge "Paradies: Liebe" von Ulrich Seidl und "Amour" von Michael Haneke zusammen. "Die Zeit" fragt bereits, ob "jemand Michael Haneke die zweite Goldene Palme nehmen können" wird. Und die "New York Times" zählt Seidls Film zu den zwei bisher besten des Festivals. In der französischen Presse wurde "Paradies: Liebe" kontrovers aufgenommen, während Haneke bereits als großer Favorit gilt: Alleine sieben von 14 Medien, die in "Le film francais" ihre Wertungen abgeben, sehen "Amour" als bisher heißesten Anwärter auf den Hauptpreis des Festivals. Die Kritiken im Überblick:

"Die Welt":

"In Cannes regieren die Österreicher: Die bisherigen Höhepunkte lieferten Ulrich Seidl und Michael Haneke mit den Filmen "Paradies: Liebe" und "Amour" ab. Ein Spaß ist das jedoch nicht unbedingt. (...) Wenn der Österreicher Ulrich Seidl einen Film "Paradies: Liebe" benennt, kann man getrost erwarten, dass "Hölle: Schrecken" damit gemeint ist. Obwohl das neue Werk seines Landsmannes Michael Haneke "Amour" heißt, sollte niemand auf ein Happyend am Schluss hoffen. (...) Haneke hält die delikate Balance zwischen dem Dinge-beim-Wort-Nennen und Schonung, anders als der schonungslose Seidl. Auch so lassen sich letzte Wahrheiten sagen."

"FAZ":

"Seidl ist der Fall des Regisseurs, der unbeirrt vom Kassenergebnis weiter die Filme dreht, die er drehen will. Bei ihm sind das auf harter Recherche gründende Fiktionen vom scheußlichen Leben. Sextourismus weißer Frauen in Kenia war es diesmal. (...) Aber am Ende hat Seidl doch etwas Erstaunliches geschafft - eine Sehnsucht, die in Ausbeutungsverhältnissen gefangen bleibt, nicht herunterzumachen. Michael Hanekes Film, der auch von der Liebe spricht, ist einer der Filme, die mit hoher Spannung erwartet wurden. "Liebe" heißt er einfach, und Liebe zeigt er in einem Ausmaß von Unsentimentalität, das bei Haneke nicht überrascht, und einem Ausmaß an Zärtlichkeit, das einen bei diesem Regisseur trifft wie ein Hammerschlag. (...) Kein Blutbad hat bisher das Entsetzen auf die Gesichter der zweitausenddreihundert Zuschauer gezeichnet, das Haneke mit einer Szene, in der Anne geduscht wird, bei ihnen auslöste. Jeder ahnte, dass er in seine eigene Zukunft blickt."

"Die Zeit":

"Der 81-jährige Trintignant und die 85-jährige Riva, deren Karrierehöhepunkte aus einer Zeit stammen, als Wohnungseinrichtungen wie die von Georges und Anne noch üblich waren, spielen ihre todesnahen Rollen mit - wenn man das so sagen darf - atemberaubender Genauigkeit. Und geführt von einem Regisseur, dessen Werk sich von Film zu Film in immer gelassenere Höhen schraubt. Wird jemand Michael Haneke die zweite Goldene Palme nehmen können? Die Frage ist im Augenblick, wo dieser Film unerbittlich sanft in den Herzen und Köpfen der Zuschauer implodiert, nicht so wichtig."

"taz":

zu Seidl: "Paradies: Liebe" lotet diese tiefe Ambivalenz aus Bedürftigkeit und Arroganz aus. Der Film wirft seiner Hauptfigur nicht vor, was sie tut, er entwickelt sogar ein Gespür für die Komik, die in dieser verqueren, neokolonialen Austauschbeziehung eben auch steckt. Aber zugleich erspart er seinem Publikum nichts."

zu Haneke: "Alles an diesem Film ist dicht und nuancenreich. (...) "Amour" hallt lange nach, weil er uns mit unserer eigenen Sterblichkeit und der von Angehörigen und Freunden in Berührung treten lässt; zugleich ist der Film selbst wie ein Gefährte für diese schwierige, letzte Reise."

"dpa":

zu Seidl: "Seidl prangert aber nicht nur die Ausbeutung der Männer an. Er zeigt auch, wie die jungen Liebhaber die weißen Frauen finanziell ausnutzen. So entsteht ein bitter-böse beobachteter Film, der jedoch auch äußerst humorvoll erzählt ist."

zu Haneke: "Michael Haneke hat es erneut geschafft. Vor drei Jahren gewann der Österreicher beim Filmfestival Cannes die Goldene Palme für "Das weiße Band", nun wird er wieder euphorisch gefeiert - für sein zutiefst berührendes und erschütterndes Drama "Liebe". Darin erzählt Haneke von einem älteren Ehepaar um die 80 und dessen Schwierigkeiten, als die Frau ein Pflegefall wird. Viele Kritiker sehen den 70-jährigen Haneke schon jetzt mit einer weiteren Goldene Palme nach Hause fahren."

"Badische Zeitung":

"Liebe", der erste Teil von Ulrich Seidls "Paradies"-Trilogie, und "Amour", der elfte Spielfilm von Michael Haneke, der vor drei Jahren für "Das weiße Band" die "Goldene Palme" des Festivals nach Hause trug, sind zugleich die herausragenden Arbeiten eines sonst mit überraschend vielen Kompromissfilmen durchsetzten Wettbewerbs. Allzu vieles haben die beiden Film indes nicht gemein. Eine gewisse observierende Distanz vielleicht, den Verzicht auf einlullende Sentimentalität, auch auf untermalende Filmmusik. Doch wo Seidl mit teils drastischer Darstellung gemischte Reaktionen provoziert, besteht Hanekes Kunst im Weglassen." (APA, 21.5.2012)