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Jürgen Habermas

Foto: AP Photo/Hermann J. Knippertz

Wien - Der deutsche Philosoph Jürgen Habermas (82) ist am Mittwochnachmittag in Wien mit zwei bedeutenden Auszeichnungen geehrt worden: Er erhielt im Rathaus den Erwin Chargaff Preis für Ethik und Wissenschaft im Dialog und den Ehrenpreis des Viktor Frankl Fonds der Stadt Wien für sinnorientierte humanistische Psychotherapie. Der derzeit wohl prominenteste Repräsentant der "Frankfurter Schule" und Vordenker der Studentenbewegung bezeichnete sich in seiner Rede als "Konservativen" - zumindest was die Entwicklungen der biotechnologischen Forschung anbelangt.

Der biotechnologische Fortschritt enteilt der Gesetzgebung

Habermas bezog sich in seinen Dankesworten auf das Wirken des 2002 verstorbenen Biochemikers Erwin Chargaff. Dieser hat einen wesentlichen Beitrag zur Entschlüsselung der menschlichen DNA geleistet. Chargaff, so betonte Habermas, habe sehr früh den Regelungsbedarf erkannt, den solche wissenschaftlichen Fortschritte erzeugen. Dies gelte noch immer: "Die Herausforderungen der biotechnologischen Entwicklungen sind bisher nur punktuell in den Aufmerksamkeitskegel der politischen Öffentlichkeit geraten. Öffentliche Meinung und politische Gesetzgebung hinken atemlos den Fortschritten, die sich häufig im Grauschleier der Industrieforschung vollziehen, hinterher."

"Immerhin hat die Philosophie, soweit sie sich mit bioethischen Fragen beschäftigt, das Thema entdeckt. Ich gehöre nicht zu diesen Spezialisten. Aber als mich ein bekannter Kollege, Ian Hacking, mit der Wortschöpfung eines 'Biokonservativen' belegte, habe ich ihm geantwortet: Zwar hätte ich mir nicht vorstellen können, in irgendeiner politischen Hinsicht je 'konservativ' genannt zu werden - den Namen eines Biokonservativen ließe ich mir jedoch gerne anheften", so Habermas.

Biotechnologische Entwicklungen könnten, wie etwa die Neuroimplantate bei Gehörlosen zeigen würden, zu "begrüßenswerten medizinischen Fortschritten" führen. Gehe es aber darum, dass Eingriffe eugenischer Natur den Organismus leistungsfähiger machen als "üblicherweise unter optimalen Bedingungen zu erwarten ist", müsse jedoch eine "rote Linie" markiert werden. Problematisch sei unter anderem die genetische Manipulation menschlicher Embryos. Zudem fixiere sich die "eugenische Vision" auf die Manipulation des Körpers - ein "Durchgriff", der die Evolution der menschlichen Natur von kulturellen Lernprozessen unabhängig machen solle.

Einsatz für die Entfaltung einer kritischen Öffentlichkeit gewürdigt

Die Laudatoren im Rathaus waren der Koordinator der Wiener Vorlesungen, Hubert Christian Ehalt, und der Philosophie-Professor Peter Kampits. Ehalt betonte, dass mit den Preisen ein Gelehrter ausgezeichnet werde, dessen Werke eine gleichermaßen große Wirkung in der wissenschaftlich akademischen Welt und in der Öffentlichkeit hatten und haben: "Für die Entfaltung einer kritischen europäischen Öffentlichkeit hat sich Jürgen Habermas mit allen Möglichkeiten, die die Instanzen des Öffentlichen gegenwärtig bieten, eingesetzt."

Jürgen Habermas war bis zu seiner Emeritierung 1994 Professor für Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Vor seiner - im Jahr 1964 erfolgten - Berufung auf den Lehrstuhl war er als Forschungsassistent bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am Institut für Sozialforschung in Frankfurt tätig.

Von 1971 bis 1981 leitete er gemeinsam mit Carl Friedrich von Weizsäcker das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlichen-technischen Welt. Habermas hat sich zuletzt unter anderem zur Situation Europas zu Wort gemeldet und dafür plädiert, das Projekt EU weiter zu unterstützen. (APA, 23.5.2012)