Sarah Spiekermann

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Seitdem ich an dieser Ethikbefragung der Mediapark-Agentur teilgenommen habe, lässt sie mich nicht mehr los. "Haben Sie jemals so getan, als würden Sie einen Bettler
nicht sehen, um nicht als geizig angesehen zu werden?" war eine der Fragen, die einem da gestellt werden. Jedes Mal wenn ich jetzt einen Bettler vor dem Supermarkt sehe, schaue ich nicht mehr weg. Es gab noch eine ganze Menge anderer, teilweise wirklich intimer Fragen von Steuerhinterziehung und Lügen bis hin zum Sexualverhalten; ziemlich hart zum Teil. Jedenfalls hat mich diese Befragung an eine ganze Reihe von "echten" ethischen Dilemmata erinnert, vor der wir in der realen Welt dauernd stehen und die sich so viel realer, wichtiger und wahrhaftiger anfühlen als all die Technikethik mit der ich mich als Wissenschaftlerin beschäftige. (Wer Interesse hat: Hier geht es zu dieser Befragung >>).

Verletzung von Rechten wird online nicht gleichermaßen empfunden

Ich frage mich, warum sich die großen Fragen der Technikethik eigentlich im Vergleich so unwirklich anfühlen. Einer Verletzung von Rechten, vor der wir in der physischen Welt immer zurückschrecken würden, wird online nicht gleichermaßen empfunden. Viele von uns haben keine Skrupel online Urheberrechte und Copyrights zu verletzen, obwohl sie nie ein Buch aus einem Laden stehlen würden. Firmen verramschen unsere Privatsphäre und bauen ohne schlechtes Gewissen lukrative Datenmärkte auf, wo sie unsere Identitäten und Interessen versteigern. Physisch würden sie uns nie auf der Strasse verfolgen und unsere Pässe klauen, um unsere Informationen zu versteigern. In 2010 hat der deutsche Staat 37.292.862 E-Mails und Datenverbindungen überprüft. Das sind so viele Überwachungsvorgänge als wenn jeder DDR-Bürger 2 x im Jahr angeschwärzt worden wäre.

Was wir nicht sehen

James H. Moore, einer der Begründer der Technikethik hat 1985 eine Eigenschaft der technischen Welt skizziert, die unser mangelndes Unrechtsbewusstsein zum Teil erklärt: Die Unsichtbarkeit. Wir sind als Menschen gebaut für das Fassbare und das Sichtbare. Die großen ethischen Probleme unserer neuen Technikwelten entstehen aber durch die Unsichtbarkeit der "Infosphäre". Weil wir den Missbrauch nicht sehen und nicht fühlen, nehmen wir ihn nicht als existent wahr. Wir haben keinen emotionalen Bezug zu ihm. So sehen wir die Aushöhlung unserer Privatsphäre nicht, die durch die dauerhafte Überwachung unserer Onlineaktivitäten, Videokameras, Kundenkarten, Mobiltelefone etc. de facto gegeben ist. Wir sehen nicht, welche menschlichen Werturteile jeden Tag absichtlich oder unabsichtlich von Computerprogrammen über uns gefällt werden. So wissen wir beispielsweise nicht, ob uns unsere Bank als kreditwürdig errechnet hat oder als undisziplinierten Abenteurer kategorisiert (so wie es die Hamburger Sparkasse jüngst mit ihren Kunden getan hat). Wir sind lediglich erstaunt, wenn der Nachbar weniger Zinsen auf seinen Kredit zahlt. Und wir sehen auch nicht, wie Programme überhaupt funktionieren. Selbst diejenigen, die Einblick haben sollten, verstehen oft ihre eigenen komplexen Computerprogramme und IT-Infrastrukturen nicht mehr. Die Maschinen arbeiten unsichtbar für unser Verständnis und diese Unsichtbarkeit der Maschinen hat die Unmittelbarkeit der Welt abgeschafft.

Das Unsichtbare sichtbar zu machen?

Was können wir gegen diesen Trend tun? Könnte die erste Eigenschaft der ethischen Maschine sein, dass sie (zumindest auf Anfrage) in der Lage ist, das Unsichtbare sichtbar zu machen? Das ist leider genau das Gegenteil von dem, woran die "Visionäre" zukünftiger IT-Welten mit dem "invisible computing" arbeiten. (Sarah Spiekermann, derStandard.at, 21.5.2012)