Bei der "Motopädagogik" werden motorische Fähigkeiten und der Gleichgewichtssinn trainiert.

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Michaela Lechner ist ein Fan der Inklusion, trotzdem haben für sie auch Sonderschulen ihre Berechtigung.

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Beim inklusiven Lernen kann jeder für sich Lernziele definieren.

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An der Schwerhörigenschule klingelt es nicht nur zur Pause, es blinkt auch.

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Im Snoozelen-Raum können die Schüler ihre Wahrnehmungsfähigkeiten schärfen.

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Es gibt auch eine Schwerhörigenklasse für Vorschüler.

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Der Schwerhörigenschule teilt sich das Gebäude mit einer Volksschule.

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Im "Snoezelen-Raum" können Kinder ins Kugelbad hüpfen, in einem bunten Sitzsack liegen oder barfuß über einen Weg aus Steinen, Bastmatten und Seide gehen. Wer sich traut, geht durch einen Vorhang aus rot-weiß gestreiften Plastikstreifen, die von einem Ring herabhängen. "Schwerhörige fühlen sich ständig beobachtet und wissen nie, ob andere über sie sprechen, möchten es aber gerne wissen, wie alle anderen Kinder auch. Geräusche, die von hinten oder von der Seite kommen sind für sie eine Herausforderung, manchmal auch eine Mutprobe", erklärt Michaela Lechner. Im "Snoezelen Raum" können sie Erfahrungen nachholen und herausfinden, wie sich bestimmte Materialien anfühlen und anhören.

Die Schwerhörigenschule Wien ist eine der 321 Sonderschulen in Österreich. Folgt man dem Rat von Experten, ist sie damit ein Auslaufmodell. Im Jahr 2008 hat Österreich die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung unterschrieben. Darin steht unter anderem, dass Schüler und Schülerinnen mit Förderbedarf nicht aus dem Regelschulwesen ausgeschlossen werden dürfen. Die Behindertensprecher der Parteien im Parlament fordern deshalb seit langem die Abschaffung der Sonderschule. Unterrichtsministerin Claudia Schmied (SPÖ) lässt sich damit allerdings Zeit. Laut ihrem Sprecher sollen bis 2020 "Inklusionsregionen" entwickelt werden. "Die werden evaluiert, und dann ziehen wir Schlüsse daraus und entscheiden, wie es weitergehen soll."

Von der Vorschule bis zum Poly

Sonderschulen wie die Schwerhörigenschule Wien können demnach noch lange weiter in ihrer aktuellen Form bestehen. Hier werden 280 Kinder vom Vorschulalter bis zum Poly unterrichtet. Es gibt 16 Klassen für Schwerhörige, in sieben davon wird nach dem Lehrplan der Allgemeinen Sonderschule unterrichtet. Zusätzlich werden acht "Inklusionsklassen" angeboten, was bedeutet, dass hörende und schwerhörige Kinder gemeinsam unterrichtet werden. Die Schule besteht seit 92 Jahren.

Geht man durch das Schulgebäude, stechen einem als Erstes die vielen Wandmalereien ins Auge. Im Stiegenhaus des Erdgeschoßes zaubert Harry Potter Seite an Seite mit seinen Freunden Hermine, Ron und Hagrid. Am Weg zum dritten Stock ist eine Karte von Wien mit seinen 23 Bezirken aufgemalt. Bei manchen Kindern sieht man Hörgeräte. Mit dem Schüler, der in der großen Pause Butterbrot verkauft, muss die Direktorin laut sprechen, damit er sie versteht.

Gleichgewichtssinn trainieren

Davon abgesehen sind vor allem die vielfältigen Möglichkeiten des Unterrichtens an der Schule auffällig. Im "Motopädie"-Raum etwa trainiert gerade eine Klasse ihre motorischen Fähigkeiten. Kinder im Alter von etwa acht Jahren sitzen mit ihrer Lehrerin am Boden und "reiten", indem sie auf ihre Oberschenkel klatschen. Sie galoppieren immer schneller, immer schneller, hüpfen über Hindernisse und rasen schlussendlich ins Ziel. "Au, au", brüllt ein Bub lachend - seine Oberschenkel sind knallrot.

Später müssen die Kinder einen Purzelbaum schlagen und Slalom um kleine Holzquader laufen. "Schwerhörige Kinder haben oft auch Probleme mit dem Gleichgewicht", sagt Direktorin Lechner. Die Lehrerin ermahnt die Schüler, so aufrecht wie möglich um die Holzquader zu laufen.

Hören, aber nicht verstehen

Im sogenannten "AVWS-Raum" werden Schüler mit auditiven Verarbeitungs- und Wahrnehmungsstörungen unterrichtet. Bei dieser Störung hören Kinder zwar, verstehen aber nicht, was man sagt. "Es ist so, als würde man mit ihnen in einer Fremdsprache reden", erklärt Lechner. Die Kinder können sich mit Kopfhörern und individuellem Übungsprogramm trainieren. Ihre Konzentrationsfähigkeit wird geschult und damit sie mit ihrer Störung leichter leben können und mehr verstehen.

Unterschiedliche Lernziele

In den Klassenzimmern, in denen der "normale" Unterricht stattfindet, sind die Tische sehr selten frontal zum Lehrer angeordnet. Meist sind sie in Gruppen zusammengestellt oder bilden ein U. Vor allem in den Inklusionsklassen bemühen sich die Lehrer, die Teamarbeit zu fördern. "Die Unterrichtsmethoden sind sehr abwechslungsreich. Das geht vom Frontalunterricht über Gruppenunterricht bis zum offenen Lernen", sagt Lechner.

In einer Klasse wird gerade Mathematik unterrichtet. Die Kinder sitzen dabei am Boden. Vor ihnen Karten, auf denen Blasen abgebildet sind. Darüber steht eine Zahl - so viele Steinchen müssen die Schüler in die Blasen legen. Je nachdem, welchen Schwierigkeitsgrad die Schüler ausgesucht haben, unterscheidet sich die Höhe der Zahl. Ein Bub zählt gerade 14 Kürbiskerne ab, ein anderer überlegt sich, wie viele blaue Glassteine er bei der Zahl drei hineinlegen muss. "So kann jeder etwas lernen, egal auf welcher Stufe er gerade ist", erklärt die Lehrerin der Klasse.

Die Lehrerin spricht über Funk

In der Klasse nebenan werden Aufsätze geschrieben, es ist ganz still. Später, wenn die Lehrerin etwas erklären will, hat sie die Möglichkeit, spezielle Hörgeräte-Verstärker einzuschalten. Dabei spricht sie in eine Art Funkgerät und ihre Stimme dringt über die Hörgeräte direkt in das Ohr der Schüler. "Ich kann sogar flüstern, und sie verstehen mich", flüstert die Direktorin in das Gerät, vereinzelt nicken Schüler verlegen. Die meisten verstecken ihr Hörgerät unter ihren Haaren, erzählt Lechner später.

Laut der Direktorin unterscheidet sich der Unterricht in den Sonderschulklassen nicht besonders stark von jenem in den Inklusionsklassen. "Der Unterricht in den traditionellen Schwerhörigenklassen geht mehr vom Lehrer oder der Lehrerin aus. Gerade die schwerhörigen Kinder brauchen manchmal diesen Frontalunterricht, wenn etwas Neues erarbeitet wird", meint sie. 

Gegen Sonderbehandlung

Viele Bildungsexperten treten gegen diese "Sonderbehandlung" von Schülern mit sonderpädogischem Förderbedarf auf, wie sie an der Schwerhörigenschule Wien betrieben wird. So auch Ewald Feyerer von der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, der dort das Institut für Inklusive Pädagogik leitet. "Durch Sonderschulen werden Barrieren aufgebaut", sagt Feyerer. Behinderte Kinder würden so von der Gesellschaft isoliert. Die Idee hinter den Sonderschulen sei, dass die Schüler dort auf die Welt "da draußen" vorbereitet würden, um sich dann integrieren zu können. "Das funktioniert nicht", meint der Experte. Auf diese Art würden jene "Grenzen im Kopf" entwickelt, die später bei Erwachsenen bestehen. "Wir sehen, dass es diese Grenzen bei Kindern nicht gibt."

Bei inklusiven Schulsystemen werden Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit anderen Schülern unterrichtet. "Das ist eine Schule, die niemanden ausschließt und an der alle partizipieren können", schwärmt Feyerer. Im Idealfall kann der Lehrer hier individuell auf den Bedarf der Kinder eingehen. "Jedes Kind arbeitet mit unterschiedlichen Zielen am selben Thema", sagt der Professor, der selbst einmal Sonderschullehrer war. Im inklusiven System könnten auch Hochbegabte durch individuelle Lernziele besser gefördert werden. 

"Schutz der Gruppe"

Direktorin Lechner stimmt mit den Ansichten von Feyerer nur teilweise überein. Für sie haben neben den Inklusionsklassen auch Sonderschulklassen ihre Berechtigung. "Die Integration ist für mich selbstverständlich, aber manche Kinder brauchen ein oder zwei Jahre, um Verschiedenes aufarbeiten und nachholen zu können. Diese Zeit möchte ich den Kindern gerne geben", meint sie. In Inklusionsklassen sei das nur teilweise möglich. In den Schwerhörigenklassen hätten die Kinder noch mehr "den Schutz der Gruppe".

"Sie können sich hier mehr zurückziehen und müssen nicht aufpassen, wie sie mit einem anderen schwerhörigen Kind sprechen, sie können die Gebärde verwenden und brauchen sich nicht dafür genieren, dass sie Hörgeräte tragen. Wenn das Hörgerät kaputt ist oder die Batterie leer ist, kann jeder im Haus helfen. Das brauchen die Kinder, und das genießen sie auch", erklärt Lechner, warum ihre Schule weiterbestehen soll. Sie glaubt nicht, dass man ihr Haus auflösen kann, zudem finde hier sowieso eine Entwicklung von Integration in Richtung Inklusion statt. (Lisa Aigner, derStandard.at, 23.5.2012)