STANDARD: Fast fünf Stunden "Krieg und Frieden" auf den Bühnen in Maribor und Zagreb. Leo Tolstoi sorgte in seiner Zeit für Empörung. Ist die Empörung auch der Motor Ihrer Tolstoi-Interpretation?
Pandur: Ich habe Theater nie als gesellschaftlichen Spiegel gesehen. Theater muss polemisch sein. Wenn es keine Probleme auslöst, hat es keine Daseinsberechtigung. Krieg und Frieden erweckt eine tiefe Beunruhigung. Ich glaube, es ist meine Bestimmung, allerorts Unruhe zu wecken, negative wie auch positive. Viele Fragen müssen neu gestellt werden, und Theater darf nie reines Exzerpt von Literatur sein. Dafür gibt es im 21. Jahrhundert keinen Platz mehr. Daher habe ich Tolstois Text in die Sprache der Jetztzeit übertragen und ihn mit der Erfahrung der letzten hundert Jahre bereichert. Hier am Balkan, wo die Erinnerungen an den Krieg gegenwärtig und die Wunden nicht verheilt sind, bietet sich die Gelegenheit dazu. Ich mache Theater über ein Thema, das hier alle kennen.
STANDARD: Kann man Ihr "Krieg und Frieden" als eine Art Vergangenheitsbewältigung verstehen?
Pandur: Ich habe sehr lang über dieses Thema nachgedacht, eigentlich schon seit dem Beginn des Balkankrieges Anfang der 1990er. Mein Dramaturg Darko Lukic, Schriftsteller aus Sarajevo, hat sich über Jahre in Schutzräumen in Sarajevo vor dem Kriegswahnsinn versteckt. Seit damals haben wir begonnen, Möglichkeiten auszuloten, diese Erlebnisse auf die Bühne zu bringen. Im Zuge dessen hat sich Tolstoi geradezu aufgedrängt. Obwohl er in seinem Roman über das Russland des 19. Jahrhunderts spricht, vermag der Text die heutige Situation fast noch besser zu spiegeln als jene der Entstehungszeit.
STANDARD: Die balkanischen Kriegswirren, erzählt durch die Geschichte von vier Familien? Können Einzelschicksale auf der Bühne die Gräuel erfassen?
Pandur: Wir sind eine Gesellschaft von Tätern und Opfern. Hier am Balkan ist der Wahnsinn so groß und unbegreiflich, dass man bis heute nicht weiß, wer für was verantwortlich ist. Ein Phänomen der Balkankriege ist, dass es so viele Wahrheiten wie gefallene Soldaten gibt. Eine sehr schwere, komplizierte Situation. Für mich ist klar, dass sich große, epische Ereignisse am besten über individuelle Geschichten erzählen lassen. Tolstoi wusste das, und er transportiert die Erzählung des Krieges über die Geschichte von vier Familien. Im Endeffekt erklärt sich ja alles über die Familie, den Vater, die Mutter, die Kinder und ihre Beziehungen.
STANDARD: Tolstoi wandte sich vom Materialismus ab und ging in der Beförderung von Frieden und seiner Spiritualität auf. Auch die Helden Ihrer Inszenierung streben mit Intensität nach inneren Werten?
Pandur: Wir alle flüchten auf der Suche nach weiteren Wirklichkeiten in Träume, Schlaf und Berauschungs- und Betäubungszustände, um so unsere Existenz auf einer anderen Ebene zu überprüfen. Ich finde, das Theater ist ein fantastischer Raum, um diese bewussten und unbewussten Ebenen zu schaffen. Durch das Theater ist es möglich, neue Welten zu kreieren, um dem Publikum so spirituelle Reisen fernab von Zeit und Raum zu ermöglichen. Wenn Theater das erreicht, lebt es seine Bestimmung.
STANDARD: Ehemals Enfant terrible der Theaterszene, gelten Sie heute als Magier, der mit Bildern und perfekter Lichtsetzung bezaubert. Birgt das nicht auch die Gefahr, dass Texte und Inhalte verwässert werden?
Pandur: Jedes Auge hat seinen Maler, und jeder Kritiker sieht das, was er will. Keines meiner Bilder dient nur sich selbst und ist sinnentleert. Natürlich kann man auch im Zusammenhang mit der Sixtinischen Kapelle von einer Autoreklame fantasieren. Das gegenwärtig zu erörtern kommt mir sehr altmodisch vor, so wie ich generell Etikettierungen für überflüssig halte. Das sollte man dem poetischen Gespür des Autors überlassen. Ich berücksichtige bei meiner Konzeption medizinische Forschungsergebnisse, die über unsere Sinne Auskunft geben. Da wurden neue Theorien erstellt. Bei meinem Theater handelt es sich nicht um klassisches Theater des 19. Jahrhunderts. Es ist ein neues Genre, das sich Richtung Film und Malerei entwickelt. Es geht um die Synthese von Elementen, die die Dramaturgie ausmacht. Diese Bilder kann man im emotionalen Gedächtnis ein Leben lang mit sich tragen.
STANDARD: Zurück zu Slowenien: Die Euphorie, auch in intellektuellen Kreisen, über die Eigenstaatlichkeit Sloweniens ist einer sich breitmachenden Jugoslawien-Nostalgie gewichen. Wie sehen Sie sich in diesem Zusammenhang?
Pandur: Ich bin ein Fremder in Slowenien, obwohl ich hier meine Wurzeln habe. Wir wurden in einem größeren System geboren, einem Land, reich an Sprachen und Religionen. In Jugoslawien verband uns die Vielfalt. Das war wunderbar, beunruhigend und sehr dynamisch. Die Eigenstaatlichkeit brachte auch beruflich den Verlust von 21 Millionen Zusehern mit sich. Das ist so, als ob man sich am Abend in ein wunderbares französisches Bett legt, und in der Früh wacht man in einer Kinderkrippe auf. Noch schlimmer ist, dass durch die Verkleinerung des Landes auch die Geisteshaltung enger wurde. Man gibt sich kleinbürgerlich und xenophob, nichts Außerordentliches hat mehr Platz.
STANDARD: War diese kritische Haltung auch ausschlaggebend dafür, dass Sie sich als Programmchef der europäischen Kulturhauptstadt Maribor 2012 zurückgezogen haben? Worüber sich, am Rande gesagt, einige sparsame Kulturfunktionäre erfreut zeigten ...
Pandur: Ich habe mich zwei Jahre lang mit dem Projekt beschäftigt, da sich die Möglichkeit bot, über das Vehikel Europäische Kulturhauptstadt die Stadt zu erneuern. Wir haben ein Programm erstellt, dass die größten Denker der Zeit nach Maribor bringen sollte. Ich wollte eine neue kulturelle Infrastruktur schaffen und den Künstlern vor Ort Entwicklungsmöglichkeiten bieten. In den Medien und in der Kulturöffentlichkeit stieß dies auf große Ablehnung. Weder die Stadt noch der Staat waren für dieses Konzept.
Die schockierende Konfrontation mit dieser rückwärtsgewandten Geisteshaltung ist der eigentliche Grund für meinen Rückzug. Es macht mich alles traurig, und ich werde es wahrscheinlich mein Leben lang nicht verstehen. (Sabina Zwitter, DER STANDARD, 23.5.2012)