Illustration von Lichtpunkt-Figuren bei der Rückenübung.

Grafik: Marc de Lussanet

Figuren bei der Schulterübung.

Grafik: Marc de Lussanet

Münster - Patienten mit chronischen Rücken- oder Schulterschmerzen sehen ihre Umwelt mit anderen Augen als gesunde Menschen - zumindest wenn es um ihre schmerzenden Körperteile geht. Das Urteilsvermögen der Betroffenen verändert sich im Hinblick auf die Bewegungen, die bei ihnen selbst Schmerzen auslösen würden. Das sind die Ergebnisse der Studie eines interdisziplinären Teams von Wissenschaftlern aus Münster und Jena, die in der aktuellen Ausgabe des Fachmagazins "Pain" veröffentlicht wurde.

Das Forscherteam, bestehend aus den Fachgebieten Biopsychologie, Bewegungswissenschaften und Medizin, zeigte Probanden mit chronischen Schulter- oder Rückenschmerzen Videos von Lichtpunkt-Figuren, die verschiedene Bewegungen durchführten. Lichtpunkt-Figuren bilden die Bewegungen realer Menschen auf eine abstrakte Weise ab. Bei diesen Übungen wurde entweder die Schulter- oder Rückenpartie der Figuren durch gehobene Gewichte beansprucht. 

Eigene Schmerzen beeinflussen Einschätzung

Aufgabe der Probanden war es zu schätzen, wie schwer die Gewichte waren, die die Figuren gehoben hatten. Gesunde Probanden konnten die unterschiedlich schweren Gewichte bei beiden Übungen auseinander halten. Die Probanden mit Rückenschmerzen dagegen konnten die Gewichte bei der Schulterübung einschätzen, jedoch nicht bei der Rückenübung, die für sie schmerzhaft wäre. Umgekehrt zeigen Probanden mit Schulterschmerzen Probleme bei der Beurteilung der Gewichte bei der Schulterübung, nicht aber bei der Einschätzung der Gewichte bei der Rückenübung.

Die Erklärung liegt laut den Wissenschaftlern im Gehirn - in dem Bereich der Großhirnrinde, dessen Nervenzellen Berührungs- und Schmerzreize verarbeiten: Die Aktivität der Nervenzellen in bestimmten Hirnregionen im sogenannten frontalen und parietalen Cortex unterscheidet sich bei chronischen Schmerzen von den Aktivitätsmustern im Gehirn gesunder Menschen. "Chronische Schmerzpatienten sind oft körperlich wieder gesund. Im Gehirn jedoch bleibt das 'Schmerzgedächtnis' bestehen - es wird nicht mehr abgeglichen mit der tatsächlichen Situation im Körper", erklärt Biologe und Erstautor Marc de Lussanet von der Universität Münster.

Neben den Berührungsreizen werden im frontalen und parietalen Cortex auch spezielle visuelle Reize verarbeitet: Sehreize, die durch die Beobachtung von Bewegungen entstehen, also beispielsweise durch eine sportliche Übung, die eine andere Person ausführt. Die neue Studie zeigt einen Zusammenhang zwischen beiden Netzwerken: "Wir haben zum ersten Mal zeigen können, dass eine direkte Verbindung zwischen chronischen Schmerzen und der Erkennung von Bewegungen anderer Personen besteht", betont Marc de Lussanet.  Die Wissenschaftler schlagen vor, dass Therapien zur Reaktivierung der "Bewegungserkennungs-Netzwerke" im Gehirn bei der Behandlung chronischer Schmerzen eingesetzt werden könnten. (red, derStandard.at, 23.5.2012)