Warum sind einfache Wahrheiten manchmal so schwer verständlich? Es gibt kein nachhaltiges Wachstum auf Pump. Wir brauchen Strukturreformen, um nicht unverantwortlich Schulden auf den Schultern zukünftiger Generationen aufzutürmen. Der neue französische Präsident Hollande macht es sich daher zu einfach, wenn er die schmerzhaften Anstrengungen zur Bekämpfung der Schuldenkrise als "Austeritätsmaßnahmen" brandmarkt und ihnen die Schuld an "der Lähmung der europäischen Wirtschaft" zuschiebt. Er verwechselt Kur mit Krankheit, setzt fälschlich Konsolidierung mit Kaputtsparen gleich. Weniger Schulden bedeutet vielmehr die Wiedererlangung unserer politischen und wirtschaftlichen Glaubwürdigkeit, vor allem aber unserer staatlichen Souveränität und des Handlungsspielraums der Politik. Ehrliche Politiker sollten diese unbequeme Wahrheit nicht verstecken - so schmerzhaft sie auch sein mag. Zum Konsolidierungskurs gibt es keine Alternative. Sonst läuft Europa in Gefahr, in den Abgrund zu marschieren.

Gleichzeitig brauchen wir mehr Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung in der EU. Und auch das ist keine neue Erfindung Hollandes. Wachstum war und ist die wesentliche Priorität für die die EU, denn Konsolidierung und Wachstum gehören unabdingbar zusammen.

Wenig überraschend übersehen die Populisten in Europa in ihren Wachstumsplänen allerdings stets drei zentrale Bereiche, mit denen Europa in breitem Maße zu Wachstum und Arbeitsplätzen beitragen könnte:

1.) Die Stärkung und Vollendung des Binnenmarkts als Europas Kraftzentrum. Das europäische Recht des Binnenmarktes ist stark auf dem Papier, aber schwach in seiner nationalen Umsetzung. Zu viel Potenzial liegt brach dank der sturen und zu oft protektionistischen Haltung der Mitgliedstaaten sowie zu hoher bürokratischer Belastungen.

2.) Ein weiterer Wachstumsanreiz - oftmals ignoriert, obwohl kostenfrei - ist der Bürokratieabbau.

3.) Wirklich verblüffend ist in der aktuellen Debatte aber vor allem das Fehlen eines Schlüsselbegriffs für Wachstum und Arbeitsplätze: die Wettbewerbsfähigkeit. Das Problem vieler Staaten ist nicht nur ihre Schuldenlast, sondern auch die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft. Und ohne die erwähnten Strukturreformen wird es diesbezüglich zu keiner Verbesserung kommen.

Europa braucht alle diese Ansätze, um wieder auf die Füße zu kommen. Die EU-Staats- und Regierungschefs sollten sich dieser Agenda ernsthaft annehmen. Und sie sollten einen Blick auf jene Liste wachstumsfördernder Maßnahmen werfen, die im Rat blockiert sind, obwohl Kommission und Parlament längst dahinter stehen. Alles, was beim EU-Gipfel gestern auf der Tagesordnung stand, hat das EU-Parlament längst mit großer Mehrheit gefordert oder beschlossen: Die Finanztransaktionssteuer, Eurobonds, EU-Projektbonds, das EU-Patent, die Erleichterung des Zugangs der Wirtschaft zu Krediten, die Wachstums- und Beschäftigungsstrategie "Europa 2020", die thermische Sanierung des Gebäudebestandes zur Ankurbelung der Wirtschaft, der Single Market Act oder der Small Business Act. In allen diesen Bereichen sind wir als Bürgerkammer der EU also viel ambitionierter und wachstumsfreundlicher als die Regierungen der Mitgliedstaaten, die auf der Bremse stehen.

Deshalb brauchen wir jetzt konkrete Maßnahmen und nicht neue Gipfel Statt politischer Rhetorik und Schuldzuweisungen müssen sich die Mitgliedstaaten verpflichten, die gefassten Beschlüsse rasch und vollständig umzusetzen. Die Verantwortung dafür liegt - aufgrund der Kompetenzordnung der EU - bei den Regierungen der Mitgliedstaaten. (Othmar Karas, DER STANDARD, 24.5.2012)