Nicht nur Spinnen, auch Florfliegen können hochbelastbare Seide produzieren. Deutsche Wissenschafter haben sie nun im Labor künstlich nachgebaut.

Foto: Lehrstuhl für Biomaterialien, Universität Bayreuth

Spinnen und Schmetterlinge sind nicht die einzigen Gliedertiere, die Seide produzieren. So ist beispielsweise die Florfliege in der Lage, hochgradig belastbare Seidenfäden zu spinnen - allerdings für einen anderen Zweck als dies die Spinnen tun: Die Insekten lassen ihren Nachwuchs an einem solchen seidenen Faden baumeln und schützen ihn damit vor Feinden. Nun ist es Forschern von der Universität Bayreuth erstmals gelungen, diese Eierstiele künstlich nachzubauen. Die neuen Seidenfäden sind wie ihre natürlichen Vorbilder außerordentlich zugfest und biegesteif und stellt damit ein hochattraktives Material für neue technologische Anwendungen dar. In der Online-Ausgabe des Journals "Angewandte Chemie" berichten die Bayreuther Wissenschafter über ihre mittlerweile patentierte Entwicklung.

Die Florfliegen sind eine in Mitteleuropa weitverbreitete Fliegenart, die besonders durch ihre hellgrüne Farbe, ihre durchsichtigen länglichen Flügel und ihre schillernden Augen auffällt. Weil die aus den Eiern geschlüpften Larven sich von Blattläusen ernähren, werden Florfliegen in der Landwirtschaft gezielt zur biologischen Schädlingsbekämpfung eingesetzt. Um einen Eierstiel zu produzieren, sondert die Florfliege aus ihren Drüsen einen Tropfen Spinnlösung ab, der fest an der Unterseite eines pflanzlichen Blattes haften bleibt. Dann drückt sie ein Ei in diesen Tropfen und zieht das Ei nach unten. So entsteht ein Seidenfaden, der innerhalb weniger Sekunden aushärtet.

Die Eierstiele der Florfliege haben einen Durchmesser von nur 10 Mikrometern. Zum Vergleich: Ein menschliches Haar hat einen fünfmal größeren Durchmesser. Und dennoch erweisen sich die Eierstiele als außerordentlich biegesteif. Denn wenn man die pflanzlichen Blätter, an denen sie herabhängen, herumdreht, zeigen die Eierstiele weiterhin senkrecht nach oben. Trotz des Gewichts der an ihrer Spitze befindlichen Eier werden sie nicht gekrümmt oder zusammengepresst.

Synthetisiertes Gen in DNA von E. coli-Bakterien eingebaut

Thomas Scheibel, der an der Universität Bayreuth den Lehrstuhl für Biomaterialien leitet, und sein Doktorand Felix Bauer konnten jetzt erstmals im Labor Eierstiele aus Seidenproteinen nachbauen, die an das natürliche Vorbild in vieler Hinsicht heranreichen. Der zentrale Baustein der künstlich hergestellten Seidenproteine besteht aus 48 Aminosäuren und wiederholt sich achtmal, ähnlich den Gliedern einer Kette. Genauso wie bei natürlichen Seidenproteinen befindet sich am Anfang der Proteinkette eine aminoterminale Domäne und an deren Ende eine carboxyterminale Domäne. Diese Endstücke steuern maßgeblich die Eigenschaften der Seidenproteine.

Für die Herstellung der Seidenproteine haben Scheibel und Bauer ein biotechnologisches Verfahren angewendet, das sie in ähnlicher Form schon bei der Produktion von Spinnenseidenproteinen eingesetzt haben. Ein im Labor synthetisiertes Gen wird in ein ringförmiges Stück DNA eingebaut und in lebende E. coli-Bakterien eingeschleust. Durch Zugabe eines speziellen Zuckers wird die Produktion der Seidenproteine angeregt. Die auf diese Weise biotechnologisch hergestellten Seidenproteine werden auch als rekombinante Seidenproteine bezeichnet.

Die aus den rekombinanten Seidenproteinen geformten Eierstiele erweisen sich als außerordentlich belastbar. Bei einer Luftfeuchtigkeit von 30 Prozent sind sie genauso zugfest und dehnbar wie ihre natürlichen Vorbilder. Das bedeutet: Es muss die gleiche Kraft wie bei natürlichen Eierstielen aufgewendet werden, um die künstlichen Seidenfäden auseinanderzureißen. Erst bei einer hohen Luftfeuchtigkeit um 70 Prozent ändert sich das Bild. Dann sind die Eierstiele der Florfliege den Kopien aus dem Labor klar überlegen. Sie lassen sich bis auf das Sechsfache ihrer ursprünglichen Länge ausdehnen, ohne dabei zu reißen.

Auf die Anordnung kommt es an

Die Bayreuther Wissenschafter arbeiten jedoch daran, die Belastbarkeit der künstlichen Eierstiele auch bei höheren Luftfeuchten weiter zu steigern. Die Natur bleibt dabei ein Vorbild. Denn die Eierstiele der Florfliegen verdanken ihre extreme Dehnbarkeit und Zugfestigkeit vor allem ihrer inneren Struktur. Die einzelnen Seidenproteine sind nämlich innerhalb des senkrechten Eierstiels so angeordnet, dass ihre Längsachsen horizontal verlaufen; also im rechten Winkel zur Faserachse des Eierstiels stehen. Daher können sie wie die Falten einer Ziehharmonika auseinandergezogen werden, ohne dass der Stiel zerreißt.

Diese sogenannte "Cross-Beta-Struktur" der Eierstiele wird von den rekombinanten Seidenproteinen bisher noch nicht gebildet. "Aber wir sind zuversichtlich, dass es uns bald gelingen wird, die Natur auch in dieser Hinsicht nachahmen zu können. Dann werden unsere neuen Seidenfasern noch belastbarer, noch leistungsstärker sein", erklärt Scheibel.

Bereits jetzt zeichnet sich ein breites Anwendungsfeld der künstlich erzeugten Seidenproteine ab. Sie können nicht nur zu neuartigen Fasern, sondern auch zu Beschichtungen, hauchdünnen Filmen oder winzigen Kapseln weiterverarbeitet werden. In diesen Formen sind sie beispielsweise für Anwendungen in der Kosmetik, Medizintechnik oder der pharmazeutischen Industrie, aber auch in technischen Anwendungen der Kunststoffindustrie von hohem Interesse. (red, derstandard.at, 26.05.2012)