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Katastrophismus-Expertin Röggla: "Ich habe schon während meines Studiums viel Theorie gelesen und versuche zu verstehen, was in unserer Gesellschaft vor sich geht."

Foto: dpa/Fredrik von Erichsen

STANDARD: Frau Röggla, für das Literaturfest Salzburg werden Sie in der ganzen Stadt mit Zitaten plakatiert. Wie stehen Sie heute zu dieser Stadt, in der Sie studiert haben?

Kathrin Röggla: Es gibt ein Problem, das ich bemerkt habe, als ich einen alten Schulkollegen getroffen habe: Die Stadt ist so wahnsinnig schwer fassbar. Öffentlicher Raum ist hier fast immer zugleich privater oder touristischer Raum, und es ist gar nicht so klar, wer ihn mitgestaltet. Diese katholisch-nationalsozialistische Verkleisterung, die Thomas Bernhard stark thematisiert, spüre ich heute nicht mehr so unmittelbar. Damals wurden wir von der Studienrichtungsvertretung nach einer Demonstration gleich der Blasphemie angeklagt - ein klassisches Salzburger Erregungsbild. Zwanzig Jahre nach meinem Weggang sind es eher andere Dinge, die mir auffallen: Zum Beispiel ist die Armut in der Stadt sehr versteckt. Probleme werden nicht sichtbar, weil man sie auf sich selbst und nicht auf die Gesellschaft bezieht. Vor dem Literaturfest Salzburg habe ich 15 schaufenstertaugliche Sätze gesucht, das war gar nicht so leicht. Denn ich schreibe Literatur ja in der Regel nicht für eine Bushaltestelle.

STANDARD: Inzwischen leben Sie schon lange in Berlin. Was macht das Leben dort aus?

Röggla: Im Moment ist alles vorwiegend durch Familie bestimmt. Wir haben zwei Kinder und sind dadurch halt sehr stark im Viertel sozialisiert. In unserer Integra tionskita hat man vom türkischen Obst- und Gemüsehändler bis zum kürzlich zugezogenen Architekten eine große Bandbreite. Die Berliner neigen stark dazu, in ihren Szenen zu bleiben. Die Kinder brechen das auf. Was das wirtschaftliche Auskommen anlangt, gilt für viele noch immer: Die Stadt Berlin kann einen nicht ernähren. Auch für mich kommen die meisten meiner Aufträge aus anderen Zusammenhängen. Ich lebe hier, aber die Arbeit ist eigentlich anderswo.

STANDARD: Sie wohnen in Nordneukölln, das ist eine Gegend, die zuletzt stark ins Zentrum des Inter esses gerückt ist. Stichwort Gentrifizierung.

Röggla: Ich lebe schon seit 16 Jahren in dieser Wohnung. Nie hätte ich gedacht, dass so etwas passieren könnte, was hier in den letzten vier, fünf Jahren passiert ist. Es gibt Mietpreissteigerungen von 100 Prozent und mehr. Aus dem verschlafenen, kleinbürgerlich-proletarischen Viertel ist ein Ort ständiger, internationaler Jugendfestspiele geworden. Es gab eine Zeit, da hat hier jede Woche ein neues Restaurant aufgemacht. Andererseits ist es auch ein Wunder, dass das so lange gedauert hat, denn im Grunde ist das hier ein tolles, stadtnahes Viertel mit Altbauten und viel Grün. Viele Menschen aus New York oder Spanien im Alter zwischen 18 und 27 Jahren sind jetzt hier, und natürlich Immobilieninvestoren wie Tekker aus Dänemark, die in großem Stil aufkaufen, um Profite für ihre Investoren zu erwirtschaften. Viele "Ureinwohner" sind ja wie ich auch erst zehn, fünfzehn Jahre hier. Und nun stellen sich plötzlich Fragen wie: Wer soll hier wohnen dürfen?

STANDARD: Sie sind seit Jahren als freie Schriftstellerin erfolgreich. Wie fing das an mit dem Schreiben?

Röggla: Ganz am Anfang habe ich Theater gemacht in der freien Szene in Salzburg. Das war meine erste Leidenschaft. In die Prosa bin ich dann eher reingerutscht, dort aber eine ganze Weile ausschließlich geblieben, dann kam das Radio dazu und das Stadttheater. Das sind jeweils völlig getrennte Welten. Man schreibt ja in der Regel kein Theaterstück ohne Auftrag. Prosa hingegen kann man immer machen. Das Buch Irres Wetter hat dann viele Dramaturgen neugierig gemacht, und die haben mich nach Stücken gefragt. In den 90er-Jahren hatte ich eine Phase, in der mir Theater als sehr bürgerlich erschien. Damals ging ich in Berlin fast nur in die Volksbühne, das war damals ja eher ein Kongresszentrum und ein Club als ein Theater. Inzwischen sind aber freie Gruppen wie Rimini Protokoll oder She She Pop längst inte griert, und Theater sieht insgesamt ganz anders aus. Jetzt mache ich auch wieder mehr dort. Mein neues Stück Kinderkriegen hat gerade Premiere (am Cuvilliéstheater des Residenztheaters, Anm.) in München gehabt, es ist eine Art Musical, mit ein bisschen Rambazamba. Ich fand es toll.

STANDARD: "Irres Wetter" kam 2000 heraus, auf dem Höhepunkt der Popliteratur. Zu der sind Sie aber immer auf Distanz geblieben, oder?

Röggla: Ich habe einen anderen Begriff von Popliteratur. Für mich ist das Rolf-Dieter Brinkmann oder die frühe Jelinek und nicht Benjamin von Stuckrad-Barre. Pop wurde in den 90er-Jahren auf eine neue Weise definiert, ich kam aber mit meinem Pop hierher. Das hatte gar nichts miteinander zu tun. Wenn sich damals fünf junge Autoren mit Krawatte zu einem literarischen Quintett mit dem Titel Tristesse Royal zusammensetzten, hatte das politisch etwas Neokonservatives. In diesem Sinn war ich eindeutig Popliteratur. Mein Weg war auch stark durch den österreichischen Hintergrund geprägt: die Wiener Gruppe, Elfriede Jelinek, Gert Jonke, Werner Schwab. Damit bin ich groß geworden. Während des Studiums kamen Autorenschaften wie die von Alexander Kluge hinzu oder jemand wie Hubert Fichte, der das Dokumentarische in die Literatur gebracht hat. Fichte ist eigentlich mein Hausheiliger. Ihm habe ich mich einmal ein ganzes Jahr lang intensiv gewidmet, da habe ich sehr viel gelernt. Er hat mir gezeigt, wie man Gespräche führt.

STANDARD: Interviews sind ein wesentlicher Teil Ihrer literarischen Praxis.

Röggla: Genau. Ich habe zum Beispiel drei Jahre mit Unternehmensberatern recherchiert, alle zwei Wochen ein Gespräch. Ich ha be Jahre gebraucht, bis ich mir so ein langes Gespräch zugetraut habe. Schriftsteller machen das ja eigentlich nicht, mit jemand sprechen. Sie arbeiten allein am Schreibtisch. Für Wir schlafen nicht habe ich die Interviews sehr stark bearbeitet, aber die dokumentarische Schicht bleibt wichtig. Ich habe da auch noch so ein länger angelegtes Projekt zu den "Internationals", Hilfskräften in Krisengebieten. Da würde ich gern einmal einen Roman schreiben, denn da stecken eine Menge wich tiger Themen drin: ein Leben zwischen den Ländern, Kulturen, Systemen; ein eigenes Herrschaftssystem des Helfens. Es sind sehr viele Leute meiner Generation, die da unterwegs sind und die in ganz abgesicherten Umgebungen leben, abgeschottet von den Wirklichkeiten, denen sie sich widmen.

STANDARD: Welche Projekte haben Sie derzeit auf dem Schreibtisch?

Röggla: Ich schreibe gerade ein Buch, das 2014 erscheinen soll. Ein Band Prosa, in dem ich mich mit Aspekten der Deregulierung beschäftige. Es wird ein bisschen Science-Fiction werden, da geht der Blick nach vorn, aber nicht sehr weit. Es geht mir um die Kartografie einer neuen Gesellschaft. Nächstes Jahr wird ein Essayband erscheinen, in dem Texte von mir zu dem Komplex Katastrophismus, Arbeit, Ökonomie versammelt sind, die thematisch ein Knäuel bilden, zusammen mit Theatertexten. Und: Ich werde einen Film machen!

STANDARD: Worum geht es da?

Röggla: Ich bin ja Mainzer Stadtschreiberin, und da macht man mit dem ZDF einen Film. Monika Maron hat zum Beispiel etwas über das Solar Valley in Bitterfeld gemacht. Man hat zwölf Drehtage mit einem Team, das ich nicht kenne, das wird nicht ganz einfach. Ursprünglich wollte ich etwas über das Fernsehen machen, das wollte das ZDF aber nicht. Ich habe mich dann für ein anderes Thema entschieden: Bergbauingenieure, die sich mit dem Abbau von Nuklearanlagen beschäftigen. Die Dreharbeiten sollen im Kosovo und in Bulgarien stattfinden, aber auch in Deutschland. Das ist zuerst einmal ein eher literaturfernes Thema: Industriegeschichte und Risikomanagement. Aber ich werde mich natürlich auch einbringen.

STANDARD: Sie gelten als wichtige politische Stimme der jüngeren Autorengeneration. Woher kommt dieses besondere Engagement?

Röggla: Ich habe schon während meines Studiums viel Theorie gelesen und versuche eben zu verstehen, was in unserer Gesellschaft vor sich geht: Wie kann man Neoliberalismus definieren? Da gibt es von dem Philosophen Michel Foucault das Stichwort Gouvernementalität, also eine Art "verinnerlichte" Regierung. Das hilft schon, eine Menge zu begreifen. Man muss ja nur mit einem Kind zum Arzt gehen, da sieht man schon, was sich alles verändert hat. All diese Tests, dieser Begriff von Normalität, der hochgehalten wird, es gibt auch sonst einen große Panik vor Abweichung und Störung, eine Tendenz zum Mainstreaming: Alles muss immer in der Mitte sein, aber es gibt die Mitte gar nicht mehr. Gesundheit nimmt im Kapitalismus Warenform an, das heißt umgekehrt: Krankheiten werden produziert. Das sind alles Phänomene, die in den Bereich der Biopolitik gehören, wie Foucault das genannt hat.

STANDARD: Wie pessimistisch sind Sie für die Zukunft?

Röggla: Da bin ich Österreicherin und als solche auf den Weltuntergang eingestellt. Die großen Themen bleiben in der Politik halt immer wieder liegen ...

STANDARD: Wird die neue Partei der Piraten da etwas zum Besseren wenden?

Röggla: Nein, das sehe ich nicht. Ich sehe da eine Form des Populismus entstehen, die immer anfällig für rechte Tendenzen sein wird. (Bert Rebhandl, Album, DER STANDARD, 26./27./28.5.2012)