Aus dem
Lot geraten ist mittlerweile weit mehr.
Er soll es einmal richtig zu spüren bekommen: Dieser Satz begleitet meinen Wunsch. Doch es ist nicht bloß Revanche, die sich in mir KHG so sehr ins Gefängnis wünscht.
Ich will, dass Karl-Heinz Grasser eingesperrt wird. So ein Wunsch ist mir noch nicht oft untergekommen. Denn etwas in mir stellt sich immer an die Seite der Verdächtigten und Flüchtigen. An die Seite der Mörder, der Betrüger und Räuber, sobald die Staatsmacht sie jagt. Weil sie allein sind. Nicht, weil sie unschuldig sein könnten; auch wenn sich mein Mitgefühl das natürlich wünscht, um keine Gewissensbisse vonseiten der Moral zu bekommen. Und auch nicht, da die Gesellschaft sie, die nun im Namen des Rechts verfolgt werden, erst zu jenen Räubern und Mördern machte.
Dass sie allein sind, berührt mich. Und dass sie als Einzelne für etwas stehen, das alle ergreifen kann, alle an- und umtreiben, sofern die Verhältnisse es nur wollen.
Wann immer aber in den vergangenen ein, zwei Jahren die Rede von dem Sohn eines Klagenfurter Autohändlers war, der zuerst Haiders Statthalter in Kärnten spielte, um nach einer freundlichen Überbrückung als Frühstücksdirektor Frank Stronachs Finanzminister der Republik zu werden, taucht in mir der Wunsch auf, diesen Mann mitsamt seinem aufgesetzten Lächeln im Gefängnis zu wissen.
Er soll es zu spüren bekommen: Dieser Satz begleitet meinen Wunsch. Er soll es einmal richtig zu spüren bekommen. Doch es ist nicht bloß Revanche, die sich in mir Karl-Heinz Grasser so sehr ins Gefängnis wünscht. Und es wäre dem auch nicht bereits Genüge getan, käme er dort noch so handfest auf der Stelle mit den klassischen Hierarchien und Unterwerfungsritualen eines Gefängnisses in Berührung.
Er sollte etwas arbeiten müssen, etwas Richtiges. Das wünsche ich mir, so wie sich das kleine Leute von den vermeintlich Großen immer schon wünschten. Es muss nicht unbedingt ein Handwerk sein. Eine solche Vorstellung richtiger Arbeit wäre erst recht wieder nur romantisch. Nur zu schnell machte sich gerade jemand wie Karl-Heinz Grasser mit pseudokünstlerischen Schnitzereien an der Gefängniswerkbank einen Lenz daraus.
Vielmehr sollte es ein Job sein, wie ihn ein guter Teil der Bevölkerung weitab ihrer Qualifikationen und Interessen erfüllt, um sich die Miete mit Müh und Not leisten zu können, Sozial- und Haftpflichtversicherungen, Telefon, Internet, Auto samt Benzin sowie Alltagseinkäufe. Noch gar nicht zu reden von den Ausgaben für ein Kind, für Ausflüge oder gar Urlaub.
Irgendeine Callcenter-Arbeit etwa. Oder mit verknotetem Haar, Kopftuch und dem entsprechenden Kittel als südländische Putzfrau. Hilfsarbeiter eines Leiharbeiterunternehmens im Tunnelbau oder auf einer Autobahnbaustelle wären weitere Möglichkeiten. Und auch wenn man an Supermarktkassierer denkt, an Gemeindearbeiter oder Großküchenhilfskräfte, ist man ebenso wenig schon bei einem Querschnitt ganz normaler Jobs angelangt wie beim Beispiel eines stets von Honorarnoten lebenden freien Schreiberlings für eine Zeitung wie diese.
Welche Ideen einem beim Nachdenken einer möglichen Jobliste für einen solchen Mann auch kommen, vor allem wird deutlich, dass es um mehr geht. Karl-Heinz Grasser als öffentliche und womöglich auch private Person und als Fratze des Emporkömmlings, für den Politiker eine Bezeichnung von viel zu großem Wert ist, ist doch nur ein Name und als solcher bestenfalls Chiffre für die Rücksichtslosigkeit und Gier einer Gesellschaft, in der solche Lebensläufe die längste Zeit sogar bestaunt wurden und werden.
Bis alles umschlägt, bis die Aggression kommt, der dumpfe Sinn von Rache und Revanche, der sich den dünnen Mann mit seinen langen Haaren im Gefängnis, umringt von Schlägertypen, vorstellt.
Das Dumpfe, anders kann ich es mir nicht erklären, macht sich dort breit, wo die Abstraktion immer öfter rettungslos ins Leere geht. Es ist mehr als Revanche, es ist ein Instinkt, der zutage tritt, wenn die Ziffern und Summen der Einkommen einzelner Menschen die Leben so vieler Durchschnittsfamilien finanzierten, dass selbst der Multiplikator dafür eine unbegreifliche Zahl ist.
Die Chiffre KHG, und die damit verbundenen Wünsche, kommen einem angesichts der Boni und Prämien mancher Bankmanager, oder der sekündlichen Kursgewinne an den weltweiten Börsen, fast kleinkrämerisch vor. Und doch beginnen die Missverhältnisse weit vor einer Figur wie Karl-Heinz Grasser.
Ungerechtigkeit, das alte Wort, es erscheint in den Verhältnissen unserer marktwirtschaftlichen Welt längst Wirkstoff anstatt revolutionärer Funke zu sein. Wir wissen alles über die Vorgänge, die sogenannten Auswüchse und Skandale, wir kennen die Zahlen, wir wissen Bescheid über all die Zufälle und Fiktionen eines Systems, in dem an der Wall Street innerhalb von Tagen, womöglich sogar nur innerhalb von Stunden, in bloßen Buchwerten die industrielle Produktion der ganzen Welt umgesetzt wird.
Und doch ist es seltsam ruhig in unserer Welt. Nirgendwo fällt ein benachteiligter und ausgebeuteter Kontinent über den anderen her. Genauso wenig wie auch nur in einem der Länder, in denen scheinbar nur mehr das Geld zu arbeiten braucht, je ernsthafter Umsturzversuche unternommen werden. Während die kleinen, tatsächlich geführten Kriege an den Rändern unserer Welt gegen die nicht stattfindenden in unserer Mitte beinahe wie Beruhigungspillen oder Ablenkungsmanöver wirken.
Es ist alles zu haben
Oder ist die vermeintliche Ruhe in den Achsen von New York, Tokio, London und Frankfurt der eigentliche Krieg, der schon viel zu lange herrscht. Ein Krieg, der alles so durchzogen und durchdrungen hat, dass es keine Erinnerung, kein Wissen anderer Verhältnisse mehr gibt. Es ist ein Krieg, der geführt wird mit den Waffen der Zerstreuung und der Überflutung mit Informationen und Illusionen. Ein Krieg der Waren und der Käuflichkeit als letztem Wert.
Es ist alles zu haben, so lautet das Versprechen. So hat das Geld die Menschen von ihren Göttern befreit. Mit einer Form von Freiheit, die nur zu gern vergessen lässt, dass darin erst recht nicht alles von allen zu haben ist. Und das Versprechen hält umso besser, da es jenseits des Geldes tatsächlich kaum andere Werte mehr gibt, da auch alle scheinbaren Alternativen in Wirklichkeit nichts anderes als Waren sind: Waren der Wellnessindustrie, der Schönheitschirurgie oder der Esoterik-Händler. Freizeit, Wellness, Lebenssinn und Lebensverlängerung, alles lässt sich machen, es hat nur seinen Preis, und es verkauft sich gut, es verkauft sich immer besser.
Darüber hinaus gibt es wenig. Schon gar keine politischen Utopien einer anderen Welt. Trotzdem geschieht etwas. Es lässt sich noch nicht benennen, es ist unförmig, doch es arbeitet. Es ist ein Gefühl von Grenzen und von Endlichkeit. Manchmal einem drohenden Ersticken ähnlich, manchmal einer allmählich näher rückenden Horizontlinie.
Es ist nicht viel, was ich darüber weiß. Es beginnt vielleicht dort, wo der Wunsch von einem Karl-Heinz Grasser im Gefängnis mit einem Lächeln erledigt ist. Und es hat trotzdem nicht wenig mit dem dumpfen Sinn zu tun, der ihn im Gefängnis schweren Jungs ausliefert.
Was weiß ich? - Ein Freund kaufte sich vor einem Jahr einen Revolver, um sich im Fall von Verteilungskämpfen und Plünderungen den Weg zu Nahrungsmitteln für seinen Sohn freischießen zu können. Andererseits wünscht sich ein Tiroler Politiker jener christlichsozialen Partei, deren eigentliche Politik in Wirklichkeit stets dem Hausgott der Marktwirtschaft folgt, zur Abschreckung die Todesstrafe herbei. Ich weiß vom steigenden Absatz von Alarmanlagen und von der Durchsichtigkeit meines Kaufverhaltens und meiner täglichen Wege. Ich weiß, dass Facebook eine Ersatzhandlung ist und die Sehnsucht dahinter kaum mehr zu stillen. Ich kann fast jedes Ereignis auf der Welt per Live-Cam mitverfolgen und lasse mir jede Erregung scheinbar kostenlos im Netz stillen.
Es wird etwas geschehen, und es steht zu fürchten, dass es Gewalt und Zerstörung sein wird. Denn in einer Gesellschaft, in der es nicht einmal mehr Platz für die Utopie einer anderen Welt gibt, ist wohl auch wenig da, das es sich zu retten lohnte.
All das ist seltsam nah und wirklich, wie in einem Traum. Und ich weiß nicht einmal, ob ich Angst spüre. (Martin Prinz, Album, DER STANDARD, 26./27./28.5.2012)