Cornelia Travnicek: Der Roman "Chucks" ist das fünfte Buch der jungen Österreicherin.

Foto: Standard/Regine Hendrich

Dass österreichische Autorinnen und Autoren in deutschen Verlagen publizieren, sobald sie die Möglichkeit dazu haben, und oft erst dann einen Durchbruch erzielen, daran hat man sich schon gewöhnt. Dass aber das mittlerweile fünfte Buch der jungen Cornelia Travnicek von Rezensenten, die keines ihrer bisherigen gelesen haben, hartnäckig als Debüt gepriesen wird, weil es das erste in der Deutschen Verlagsanstalt ist, stellt eine neue Stufe der Ignoranz gegenüber sogenannten "Kleinverlagen" in Österreich dar. Die Aufmerksamkeit, die Travniceks Roman Chucks findet, hat er allerdings mehr als verdient.

Er beginnt an einem Totenbett in einem Spital beim gleichmäßigen Piepen der Geräte. Doch schon der letzte Satz der ersten Seite ist eine Absage an große Worte und Pathos: "Ich unterdrücke ein Gähnen, weil sich das nicht gehört: dass man gähnt, wenn jemand stirbt." Man muss aber das ganze Buch vor Augen haben, um zu wissen, wer hier sitzt und wer hier stirbt.

Liest man sich durch die kurzen, von vielen Zeitschnitten unterbrochenen Texte hindurch, lernt man dieses "Ich" kennen - Mae Reimler, die sich als Sechzehnjährige ein Tattoo stechen lassen wollte, das nur aus einem Wort besteht: "Ich". Das muss sie natürlich erklären: "Damit ich nie vergesse, um wen es geht, am Ende." Mae macht vieles durch, aber es gelingt ihr auch ohne dieses Tattoo, sich selbst nicht zu vergessen. Und sie ist, auch sprachlich, am besten, wo sie das realisiert, was Herbert Marcuse als die "große Weigerung" gegen die Übermacht der Gesellschaft bezeichnet hat. Mae widersetzt sich in vielen Mikroszenen - gegen die Kontrolle ihrer biederen Mutter, gegen die Gier der Konzerne nach Informationen über ihre Kunden, aber sie widerlegt auch die Klischees über Jugendliche, die auf der Straße leben.

Mit einem Bewährungshelfer

Auf der Straße hat Mae nach dem Auseinanderbrechen ihrer Familie für einige Zeit in Mara ihre einzige Freundin gefunden. Und sie wurde wegen Körperverletzung verurteilt und daher mit einem Bewährungshelfer beglückt. Der wird ebenso zum Objekt der Ironie wie ihr Freund Jakob, ihre ideale Chance zur Rückkehr in ein "normales" Leben, denn Jakob ist klassisch, statisch, taktvoll, Sparbuchbesitzer, informiert, bequem und umsichtig; auch als sie von ihm wegzieht, ist er gefasst. Das Gute an ihm: "dass er in jeder Situation einen geraden Strich auf dem Papier ziehen kann." Doch Mae verliebt sich in Paul, der anders ist: "für Überraschungen gut" und "gewinnend". Aber er wird bald sterben. Als Krankenpfleger wurde er von einem randalierenden Patienten mit Aids infiziert.

Langsam erschließt sich der Romanbeginn: Mae wird ein zweites Mal ihren nächsten Menschen verlieren. Als sie sieben Jahre alt war, wurde bei ihrem elfjährigen Bruder Krebs diagnostiziert, als sie neun war, starb er. Verhalten und genau registriert der Roman die Krankenhausbesuche, um am Ende zu konstatieren: "An dem Tag, an dem mein Bruder starb, nahmen sie mich nicht mit."

Auch beim Begräbnis war Mae nicht dabei, sie saß im Vorraum und strich über die teuren und fast unberührten roten Turnschuhe, die die Eltern dem Bruder noch gekauft hatten; die Nachbarin, die auf sie aufpassen sollte, löste währenddessen Kreuzworträtsel. Als die Eltern vom Begräbnis zurückkehrten, warf ihr die Mutter die Schuhe des Bruders nach und traf sie damit unter dem Auge. Diese roten Turnschuhe oder Chucks, wie sie mit einem der unvermeidlichen Anglizismen heute bezeichnet werden, sind Maes letzte Bindung an ihre Familie, die beim Tod des Bruders endgültig zerbrochen ist; mit ihnen geht sie ihren Weg.

Chucks ist also nicht nur eine Modevokabel, sondern ein genau passender Buchtitel. Dass Cornelia Travnicek nichts dem Zufall überlässt und eine bewusste Spracharbeiterin ist, zeigen auch die Kapitelüberschriften, die oft Inhaltsangaben parodieren und auf einer anderen Ebene funktionieren als der Erzähltext. Auch wenn sie da das eine oder andere Mal danebengreift ("Vom Arschloch namens Leben und dem Spaß am Autofahren") - schon der erste Titel ("Von H-Milch und der Statik von Luftschlössern") ist ziemlich gut.

Auch die formelhaften Wiederholungen machen deutlich, dass Travnicek ihren Stoff nicht einfach heruntererzählt und nicht blind auf ihn vertraut. Dabei hat sie wahrlich etwas zu erzählen: Maes Leben auf der Straße, der Tod des geliebten und vergötterten Bruders, der Abschied von Paul, dessen Sperma, Haare und Fingernägel sie in Tupperware-Dosen zu konservieren versucht - was hier auf messerscharfe Detailszenen zugespitzt wird, das hätten Autoren von minderer Sprachkraft wohl locker zu drei Büchern ausgewalzt. An dieser sprachlichen Konzentration und an der immer wieder aufblitzenden Ironie liegt es auch, dass diese Geschichte von Abschied und Tod nie sentimental wird.

Cornelia Travnicek ist eines der überraschendsten Bücher dieser Saison gelungen, das gerade in seiner Leichtigkeit schwer wiegt und große zeitdiagnostische Kraft hat, ohne diese je ausstellen zu müssen. (Cornelius Hell, Album, DER STANDARD, 26./27./28.5.2012)