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Eine blinde Griechin artikuliert vor dem Innenministerium in Athen ihren Ärger. Seit zwei Monaten haben behinderte Bürger keine Sozialhilfe mehr erhalten.

Foto: Reuters/Behrakis

Die haben zwar kein Programm, geben sich aber entschlossen. Wie es nach dem 17. Juni weitergehen soll, weiß allerdings niemand.

 

In einem Gebüsch am Bürgersteig des Stadiou-Boulevards lebt eine junge Frau. Ihre Notdurft verrichtet sie auch dort. Nicht weit davon, im kleinen Park der Akademie von Athen, kauern junge Männer mit heruntergelassenen Hosen auf Mauersteinen und setzen sich eine Spritze in den Oberschenkel. Verwahrloste Griechen jeden Alters, in Selbstgespräche vertieft oder um Kleingeld bettelnd, trifft man überall, im vornehmen Viertel Kolonaki wie auf dem Omonia-Platz. Sie laufen im Zickzack über Trottoir und Straßen. Die Busfahrer kennen sie und weichen aus. Sie alle sind nur die sichtbare Spitze der Krise, die Griechenland umgepflügt und die Verelendung zum Teil der öffentlichen Ordnung gemacht hat.

Die Griechen leiden. Um 30 Prozent sollen psychische Krankheiten seit Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise zugenommen haben, begleitet von Alkoholismus, Drogen, Selbstmorden. "Es wäre sonderbar, wenn dies nicht der Fall wäre", sagt Fotini Tsalikoglou. Vor eineinhalb Jahren, im Herbst 2010, sprach die Psychologin von Massendepression und einer "Furcht der Griechen vor dem nächsten Tag". Doch mittlerweile scheint es, als hätten die Griechen ihre Furcht mit einer Verzweiflungstat besiegt.

Von der Depression zur Wut

"Wir sind von einem Zustand der Depression zu einem der Wut und der politischen Forderung übergegangen", sagt Tsalikoglou über die Parlamentswahl vom 6. Mai. Das Ergebnis war so chaotisch, das neue Parlament so zersplittert, dass die Griechen am 17. Juni ein zweites Mal zu den Urnen gebeten werden. Führungslos, wie mit ausgekuppeltem Gang, fährt das Land nun dahin. "Es ist, als ob eine neue Welt geboren würde, das Versprechen einer neuen Katastrophe oder einer neuen Befreiung", sagt die Uni-Professorin, selbst unsicher, wohin die Reise am Ende geht. "Die Griechen wollen sich einen Ausweg vorstellen", erklärt sie. Die kollektive Wunschvorstellung hat einen Namen: Alexis Tsipras, der Chef der Linksradikalen, der mit dem Sparkurs Schluss machen will.

Die Parteizentrale von Syriza, der "Koalition der radikalen Linken", liegt im alten Stadtteil Psiri an einem Platz, der einst nach einem bedeutenden Regierungschef aus den Jahren nach dem Unabhängigkeitskrieg benannt wurde und den Athenern heute noch so geläufig ist: "Komoundourou-Platz", nach Alexandros Komoundouros. Griechenland war damals schon, Mitte des 19. Jahrhunderts, pleite; Russland, Großbritannien, Frankreich zahlten.

Nun träumt die Linke am Komoundourou-Platz von der Macht und dem Staatsgeschäft auf Kredit und ohne Tilgung. "Wir waren bisher schon die energischste Oppositionspartei", sagt Yiannis Bournous, ein junger Syriza-Funktionär, "aber jetzt bereiten wir uns auf das Szenario vor, Regierungspartei zu sein. Wir kämpfen um die Macht. Es ist unglaublich."

Syriza, 2004 gegründet, war ein Fünf-Prozent-Unternehmen, ein Sammelbecken von Marxisten, Maoisten, Ökosozialisten, gleichmäßig aufgeteilt in alte Revoluzzer und die 20-, 30-Jährigen der "Generation Tsipras". Doch die Wahlen vom 6. Mai haben die Linksradikalen in eine Führungsposition katapultiert. Seitdem brummt es im Parteisitz.

Es gibt kein Regierungsprogramm, wie Bournous einräumt. Pläne etwa für ein neues Steuersystem würden gerade erarbeitet. Ungerührt erinnert er an den Wahlslogan von Syriza: "Die Reichen müssen für die Krise zahlen." Bei Syriza hat man schlichte Losungen. Der Druck auf Tsipras ist enorm. Wie kommt er damit zurecht? Ein großes Team versuche ihn zu entlasten, sagt der Funktionär. Aber er ist sehr entschlossen."

Eine Ahnung von Endspiel und Schicksalsentscheidung geht aus allen Gesprächen in Athen in diesen Tagen hervor. "Mir war nicht bewusst, wie verzweifelt die Leute wirklich sind", sagt Vassilis Kriezias, ein junger Steuerberater, über die Wutwahl vom 6. Mai. Seine Kunden, alles Geschäftsleute, sind sich sicher, erzählt er: "Wir sind zur Pleite verurteilt. In sechs Monaten ist es wieder so weit."

Griechenland wird dann auch bei den Anleihen, die von der Europäischen Zentralbank und anderen öffentlichen Gläubigern gehalten werden, Ausfall melden. "Tsipras oder nicht, Euro oder nicht - das ist nicht die Frage", sagt Kriezias. "Wir können so nicht weitermachen. Jeder in diesem Land glaubt, dass das Sparprogramm nicht funktioniert. Also entscheidet man sich zu kämpfen. Man kämpft für etwas, und vielleicht bekommt man etwas. Mehr Zeit zum Beispiel für Reformen und Rückzahlung." (Markus Bernath aus Athen /DER STANDARD, 26.5.2012)