Von seinem Hotelzimmer in der Wiener Innenstadt aus überblickt Lobsang Sangay die Bundeshauptstadt, wo er am Nachmittag gemeinsam mit dem Dalai Lama eine Kundgebung von Exil-Tibetern besuchen wird. Danach fliegt der 2011 ins Amt gewählte Chef der international nicht anerkannten tibetischen Exilregierung zurück nach Indien, wo er geboren wurde und bis heute residiert. Im Gespräch mit derStandard.at erzählt der Exil-Premier über seinen Einfluss auf den tibetischen Widerstand gegen die chinesischen Behörden und seine Vision eines gewaltfreien Kampfes für mehr Autonomie seiner Landsleute.
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derStandard.at: Sie waren noch nie in Tibet. Wie hoch kann dann Ihr Einfluss auf die Menschen dort sein?
Lobsang Sangay: Das ist natürlich schwer abzuschätzen. Auf YouTube zum Beispiel gibt es viele Lieder, die von Musikern aus Tibet geschrieben wurden. Bisher waren diese fast ausschließlich dem Dalai Lama gewidmet. Heute gibt es schon einige Stücke, die mir gewidmet sind. Etwa eines, das übersetzt "Drei Löwen" heißt. Löwe ist mein zweiter Vorname und die Flagge Tibets schmücken zwei Löwen. Wenn Menschen in Tibet es wagen, Lieder über mich auf YouTube zu stellen, bedeutet das doch dass es eine wachsende Aufmerksamkeit und Akzeptanz für meine und unsere Arbeit gibt. Ich habe tausende Tibeter in Indien getroffen, manche haben zu weinen begonnen, als sie mich sahen. Natürlich hat das nicht unbedingt etwas mit mir persönlich zu tun, sondern mit meiner symbolischen Funktion als demokratisch gewählter Exilpremier.
derStandard.at: Wie stellen Sie sich Ihre Ankunft in Tibet vor, sollten Sie eines Tages Ihr Ziel erreichen und Ihr Vaterland besuchen können?
Lobsang Sangay: Natürlich male ich mir dafür ein sehr romantisches und idealistisches Szenario aus. Mir ist aber auch klar, dass es politisch schwierig werden könnte. Egal welche Probleme dann auftauchen, mental gesehen werde ich wohl tief durchatmen und sagen, jetzt bin ich zurück in meinem Heimatland. Ganz sicher wird es ein sehr emotionaler und glücklicher Tag sein.
derStandard.at: Warum hat die tibetische Freiheitsbewegung so viele Unterstützer auf der ganzen Welt, während sich um Kurden oder Roma vergleichsweise wenig Menschen kümmern?
Lobsang Sangay: Man kann zurückgehen bis zu Shangri-La von James Hilton (ein fiktiver, literarischer Ort im Himalaya, Anm.), wo schon vom exotischen Tibet gesprochen wurde. Dazu kommt sicher die Popularität des Buddhismus im Westen und die ethisch-politische Agenda des Dalai Lama, die heute weit mehr umfasst als die Religion. Seine Botschaft von Gewaltlosigkeit und Frieden ist universell. Die Menschen im Westen sehen aber auch, dass wir als Exiltibeter in Demokratie investiert haben. Natürlich wurden große Führer wie Gandhi oder Nelson Mandela von den Indern und Südafrikanern als Ikonen akzeptiert, aber demokratisch gewählt wurden sie nicht. Wir Tibeter haben in mehr als vierzig Ländern an einem einzigen Tag einen Anführer gewählt. Diese innere Demokratie geht Menschen im Westen nahe.
derStandard.at: Es gibt aber Stimmen, etwa unter tibetischen Studenten, die sich für radikaleren Widerstand gegen China aussprechen. Sehen Sie die Gefahr der Spaltung Ihrer Bewegung?
Lobsang Sangay: Es wird in jeder Bewegung immer unterschiedliche Meinungen geben. Wir treten für echte Autonomie innerhalb Chinas ein, manche Studenten wünschen sich die vollständige Unabhängigkeit Tibets. Das sind aber nur Minderheiten. Wir müssen sicherstellen, dass es nicht zu einer Fraktionsbildung kommt und dass wir keine Flügelkämpfe erleben müssen.
derStandard.at: Wie gedenken Sie den Selbstverbrennungen, über die in den vergangenen Monaten viel berichtet wurde, Einhalt zu gebieten?
Lobsang Sangay: Wir rufen grundsätzlich nicht zu Protesten innerhalb Tibets auf, weil das zu gefährlich ist und die Konsequenzen von Seiten der chinesischen Behörden zu scharf sind. Was die Selbstverbrennungen betrifft rufen wir selbstverständlich nicht dazu auf, im Gegenteil, wir versuchen diese Menschen davon abzuhalten. Mehr können wir nicht tun. Sehr wohl sind wir mit den Zielen dieser Menschen aber solidarisch und rufen dazu auf, ihrer zu gedenken. Das ist unsere heilige Pflicht.
derStandard.at: Was würde mit den Millionen Han-Chinesen passieren, die heute in Tibet wohnen?
Lobsang Sangay: Han-Chinesen und Tibeter haben immer schon nebeneinander gelebt, tausende Jahre lang. Der Geburtsort des Dalai Lama etwa war damals schon hauptsächlich von Chinesen bewohnt. Ich habe in Harvard hunderte Chinesen kennengelernt, viele meiner Freunde sind Chinesen. Es geht nicht um die Menschen, sondern um die Hardliner in Peking, die die Völker gegeneinander aufhetzen. Wir haben uns natürlich überlegt, was wir gegen die Aushöhlung der tibetischen Identität im Falle einer echten Autonomie tun könnten. Denn wenn die Han-Chinesen uns überrollen, verliert die Autonomie ihren Sinn. Aber gerade wenn wir innerhalb Chinas bleiben, sind wir ja an die Gesetze Chinas gebunden, die logischerweise jede Diskriminierung von Han-Chinesen verbieten.
derStandard.at: Woher kommt die Verbindung des Dalai Lama zu Österreich?
Lobsang Sangay: Das österreichische Volk hat immer schon besonderes Interesse für die Belange der Tibeter gezeigt. Natürlich liegt das auch an der Herkunft Heinrich Harrers. Der Dalai Lama hat wenige Länder in Europa öfter besucht als Österreich. Es scheint aber auch, dass Österreicher sich besonders für Umwelt- und Menschenrechtsangelegenheiten interessieren.
derStandard.at: Wer hat Ihre Reise nach Wien bezahlt?
Lobsang Sangay: Grundsätzlich bezahlen wir unsere Regierung aus Spenden von Einzelpersonen, Organisationen und Stiftungen. Dazu kommt eine "freiwillige Freiheitssteuer" durch Exiltibeter, die etwa ein Drittel unserer Kosten tragen. Wenn ich ins Ausland reise, bezahlen das die lokalen Organisationen in den jeweiligen Ländern, so auch hier. (flon, derStandard.at, 26.5.2012)