STANDARD: Sie untersuchen die politischen und sozioökonomischen Zusammenhängen in der Energiewirtschaft. Welche sind auf diesem Gebiet die wichtigsten Herausforderungen, die für eine Umstellung auf regenerative Energien zu bewältigen sind?
Smith Stegen: Die Subventionen, die noch immer für die nuklearen und fossilen Energiequellen vergeben werden, halten diesen Technologien quasi den Weg frei, und deshalb können wir so weitermachen, wie wir es in den vergangenen 50 Jahren getan haben. Es wäre jedoch vernünftig, diesen Weg weniger bequem zu machen. Solange die Regierungen dieser Welt die althergebrachte Energiewirtschaft weiterhin subventionieren, so lange werden es erneuerbare Energien schwer haben. Die G 20 haben zwar bereits 2009 klargestellt, dass alle gemeinsam die Subventionen einstellen müssen, aber natürlich passiert das nicht. Das würde die Energiepreise zügig in die Höhe treiben, und die verantwortlichen Politiker würden nicht wieder gewählt. Abgesehen davon verfügen die nuklearen und fossilen Energieerzeuger über sehr starke Lobbygruppen. Elektrizität aus Uran, Steinkohle und dergleichen ist nicht billig. Die Folgekosten tauchen allerdings nicht auf der Stromrechnung auf. Dafür werden Steuergelder herangezogen.
STANDARD: Wird die Geopolitik einer regenerativen Energiewirtschaft nicht stark den bisherigen Verhältnissen in unserer von fossilen Energieträgern dominierten Ökonomie ähneln?
Smith Stegen: Die Dynamik wird in der Tat dieselbe sein. Was für alle Verantwortlichen Priorität hat, ist die sogenannte Energiesicherheit. Für die Strategen gilt: Ist es billig, und kann ich jederzeit darüber verfügen? Es hat sogar viele Debatten über Energieunabhängigkeit gegeben. Wichtig ist zu bedenken, dass dieselben Faktoren, die ein Land auf Basis seiner Öl- und Gasimporte verletzlich machen, auch bei regenerativen Energien wirksam sind. Man muss zwar nicht die Energieträger selbst importieren, doch dafür ist man abhängig von anderen Materialien wie zum Beispiel den sogenannten seltenen Erden. Diese chemischen Elemente spielen unter anderem in der Elektronik eine entscheidende Rolle. Oder man braucht spezielle Technologien, die es im eigenen Land nicht gibt. Allerdings verfügt jeder Staat über zumindest ein paar regenerative Energiequellen, also wird die Intensität der Abhängigkeit nicht ganz so ausgeprägt sein, wie dies bei fossilen und nuklearen Energien meist der Fall ist.
STANDARD: Bei welchen energiewirtschaftlichen Rohstoffen drohen zukünftig am ehesten Engpässe, und wer hat diese unter Kontrolle?
Smith Stegen: Wie gesagt drohen Engpässe am ehesten bei den seltenen Erden. Hier wird der Markt zurzeit von China dominiert. Sehr wichtig ist aber auch Lithium, das für moderne Batterien benötigt wird, und davon hat Bolivien wohl die größten Reserven. Für die seltenen Erden gibt es übrigens Ersatzstoffe, aber die sind nicht so effizient und außerdem teurer.
STANDARD: Probleme drohen der regenerativen Energiewirtschaft auch direkt vor der Haustür. In Europa kommt es bereits jetzt zu heftigen Protesten gegen neue Energieinfrastrukturprojekte wie etwa gegen den Bau einer 380-kV-Leitung in Österreich.
Smith Stegen: Richtig, das wird ebenfalls schwierig werden. Das europäische Energienetzwerk ENTSO-E hat zum Beispiel insgesamt 42.000 Kilometer Leitungsstrecke benannt, deren Bau hohe Priorität hat. Ohne diese Elektrizitätsleitungen wird die EU ihre Klimaschutz- und Umweltschutzziele nicht erreichen können, und die größte Herausforderung beim Bau dieser Trassen wird der öffentliche Widerstand sein.
STANDARD: Viele Experten setzen große Hoffnung auf das Desertec-Konzept, also die Erzeugung enormer Mengen elektrischer Energie durch Solarkraftwerke in Nordafrika und dem Mittleren Osten. Rund 15 Prozent von Europas Strombedarf soll damit gedeckt werden können. Welche Chancen sehen Sie hier?
Smith Stegen: Ich halte das für eine brillante Idee, aber für die Realisierung müssen viele Herausforderungen und Probleme überwunden werden. Im Moment kostet die in Solarkraftwerken erzeugte Energie noch mehr als subventionierter Strom aus nuklearen oder fossilen Quellen, und das macht sie nicht attraktiver. Aber das Projekt ist möglich. Die Menschen müssen nur bereit sein, für diese Zukunftsinvestitionen zu zahlen. Alle Probleme sind lösbar, es braucht nur den Willen.
STANDARD: Kritiker werfen jedoch ein, Desertec werde ein leichtes Ziel für Terroristen sein, und das Projekt würde Europa zu sehr in die Abhängigkeit von politisch instabilen Staaten treiben, mit der Gefahr von Erpressung.
Smith Stegen: Was den Terrorismus betrifft: Terroristen gehen bei der Auswahl von Anschlagszielen offenbar von ganz bestimmten Kriterien aus, und die Desertec-Infrastruktur würde nicht ein einziges davon erfüllen. Sie wäre komplett unattraktiv. Und wenn von politisch instabilen Staaten die Rede ist: Daher beziehen wir doch auch heute schon einen Großteil unseres Öls und Gas. Es hat sich aber schon mehrfach gezeigt, dass ein Boykott am Ende hauptsächlich demjenigen schadet, der den Hahn zudreht. Desertec wäre zudem ein komplexes Netzwerk, in dem niemand etwas abschalten kann, ohne zeitgleich seine eigene Versorgung zu gefährden. Das würde man vielleicht einmal probieren, aber kein zweites Mal, und die Nachbarn werden es danach auch nicht mehr versuchen.
STANDARD: Würde Desertec nicht auch die sozialökonomische und politische Entwicklung dieser Ländern fördern?
Smith Stegen: Dieses Potenzial gibt es. Neue Arbeitsplätze und eine ganz neue Industrie würden entstehen. Desertec würde die lokale Energieversorgung sicherstellen, inklusive des stark wachsenden Bedarfs. Nordafrika könnte eine Modellregion für die ganze Welt werden. Aber es ist noch völlig unsicher, ob diese Vision je wahr wird. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 30.5.2012)