Manuel Hüttler sitzt im ersten Stock des Rotkreuz-Gebäudes und schaut über seine Heimatstadt Eisenerz. "Mittlerweile haben wir wieder Dorfcharakter erreicht", sagt der 31-jährige Betriebselektriker, der als Freiwilliger beim Roten Kreuz gerade seinen Dienst antritt. Durch die bis zum Boden reichenden Fenster des Schulungsraums sind die Felswände des Pfaffenstein und der Seemauer über dem Leopoldsteinersee zu sehen. Hüttler ist bewusst, dass Eisenerz mit zahlreichen Problemen kämpft, aber schlechtreden lässt er sich seine Heimat nicht. "Da heißt's immer, woanders ist alles besser. Nur weil ich vielleicht in Graz um zwei in der Früh noch ein Schnitzelsemmerl krieg. Aber der Freundeskreis wird auch nicht größer, nur weil die Stadt größer wird."

Der obersteirische Erzberg brachte über Jahrhunderte Arbeit und Wohlstand in die Stadt zu seinen Füßen, 30 Kilometer nördlich von Leoben. Als aber ab Mitte der 1960er Jahre Maschinen die menschliche Arbeitskraft im Bergbau ersetzten, begann der Abstieg der Region.

Wo einst mehr als 4.000 Eisenerzer Arbeit fanden, braucht das Bergbauunternehmen VA Erzberg heute nur mehr rund 170 Menschen, um täglich 6.000 Tonnen Erz aus dem Berg zu sprengen und auf den Weg Richtung Linz und Donawitz zu schicken. Die Fördermenge hat sich in den vergangenen Jahrzehnten nicht wesentlich verändert. Die Industrialisierung des Bergbaus aber ließ Arbeitsplätze in einer Dimension verschwinden, die nicht zu kompensieren war. So blieb das Erz, die Eisenerzer aber gingen. 1951 wohnten 13.000 Menschen in der Stadt hinter dem Präbichl. Heute sind es weniger als 5.000.

Eisenerz verlor in den vergangenen Jahrzehnten mehr als die Hälfte seiner Einwohner.
Foto: derstandard.at/Kampl

Wenn Hüttler von seiner Heimatstadt erzählt, zeigt er auf die zu den Geschichten passenden Gebäude. Auf das Haus, in dem vor dem Umzug das Stadtmuseum untergebracht war. Auf die Siedlung im Ortsteil Trofeng, in der er wohnt. Auf das Vitalbad, das durch den Umbau nicht besser geworden ist. Zusätzlich gibt er Tipps, wo die Pizza besonders gut und welcher Wirt besonders freundlich ist.

Obwohl der Erzabbau schon lange nicht mehr das Leben der Region dominiert, bestimmt seine Geschichte immer noch das Bild der Stadt. Zahlreiche Wohnsiedlungen, die zum Teil schon um die vorletzte Jahrhundertwende erbaut wurden, ziehen sich die Hänge der Ortschaft entlang. Massive Bauten mit großen Fenstern genauso wie Reihenhausanlagen mit kleinen Vorgärten.

Hüttler war immer Eisenerzer. Selbst während der eineinhalb Jahre, als er hauptberuflich in Graz beim Roten Kreuz gearbeitet hat, ist er jedes Wochenende über den Präbichl nach Hause gefahren. Die Bergstraße ist der einzige Weg von Leoben nach Eisenerz und im Winter hin und wieder gesperrt. Seit 2010 wohnt Hüttler wieder in Eisenerz. Hier kann er bergsteigen und Rad fahren, und das gleich nach der Arbeit. "Das ist einfach Lebensqualität", sagt Manuel Hüttler.

"Die Jungen bleiben, solange sie in die Schule gehen. Nach der Matura verlassen 90 Prozent die Stadt", zieht Christine Holzweber (SPÖ), seit 2009 Bürgermeisterin von Eisenerz, nüchtern Bilanz. Dass Eisenerz ein Problem hat, ist schon länger in der Gemeindestube angekommen.

Seit 2007 versucht die Stadt mit dem Rückbauprogramm re-design Eisenerz, den sinkenden Einwohnerzahlen gerecht zu werden. Wo andere Gemeinden weiterhin Grünland in Bauland umwidmen, um ihren Einwohnern den Traum vom Eigenheim zu erfüllen, geht es in Eisenerz seit langem darum, der Stadt beim Schrumpfen zu helfen.

Der Bevölkerungsschwund der vergangenen Jahrzehnte hinterließ auch hunderte leerstehende Wohnungen. Besonders viele davon gab es in der Siedlung Münichtal, die eine fünfminütige Autofahrt vom Ortszentrum entfernt liegt. Die zweigeschoßigen Mehrparteienhäuser wurden in der Zwischenkriegszeit für die damals wachsende Zahl der Bergarbeiter und ihre Familien gebaut. Heute wohnen hier nur noch eine Handvoll Eisenerzer. Hinter den meisten Fenstern sind keine Vorhänge zu sehen, an manchen Ecken bröckelt der Verputz. Auf der Wiese blüht Anfang Mai der Löwenzahn, vereinzelt hängt Wäsche auf den Leinen vor den Häusern.

Die leerstehenden Münichtaler Wohnungen sollen eine Ferienanlage werden.
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Der Hauseigentümer, die Linzer Wohnungsanlagen Ges.m.b.H. (WAG), hat den Münichtalern Wohnungen nahe dem Stadtzentrum zum Tausch angeboten. Die Gemeinde unterstützt den Umzug finanziell. Die meisten haben das Angebot angenommen. Ende vergangenen Jahres hat die WAG ihre Häuser mit insgesamt 550 Wohnungen an den privaten Investor Günther Arneth verkauft. Jetzt soll daraus eine Feriensiedlung entstehen. Tourismus ist auch in Eisenerz der Strohhalm, an den sich die industrieschwache Region klammert. Die Klettersteige an den Felswänden rund um Eisenerz und das Erzbergrodeo, das einmal im Jahr stattfindet, konnten die Abwanderung aber nicht aufhalten.

Die intensive Phase von re-design Eisenerz lief bis 2010 und wurde vom Land Steiermark mit insgesamt vier Millionen Euro unterstützt. Neben den Umsiedlungsprojekten wurden auch einige leerstehende Häuser abgerissen, viele saniert und Geschäftsleute motiviert, Läden im Zentrum zu eröffnen. Im alten Gericht am Bergmannplatz ist heute das Stadtmuseum untergebracht, gegenüber, im ehemaligen Marktschreiberhaus, das ebenfalls renoviert wurde, die Eisenerzer Bücherei. Stadtmuseum und Bücherei mit ihren weiß getünchten Fassaden sind das Schmuckstück des Ortes. Der Maibaum zwischen den beiden fügt sich in die Postkartenidylle. Die Geschäftslokale in den engen Gässchen der Innenstadt sind zu rund zwei Dritteln genutzt. Manchmal ist allerdings nur die Auslage dekoriert. Nur wenige Schritte vom Bergmannplatz entfernt füllen große Bilder von Obstkörben die Leere der drei großen Schaufenster.

Postkartenidylle mit Maibaum: Der Bergmannplatz im Zentrum.
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Dass mehr als 40 Prozent der Einwohner älter als 60 Jahre sind, fällt im Straßenbild auf – vor allem am Vormittag. Die Pensionisten sorgen für Leben in der Innenstadt. Ältere Damen erledigen ihren Einkauf beim Billa, einige Herren um die 60 sitzen am späteren Vormittag im gut gefüllten Gastgarten des Café Mei Teim am Theodor-Körner-Platz, genießen die Sonne und scherzen über die neuesten Wehwehchen. Verlassen wirkt Eisenerz nicht, eher ein wenig in die Jahre gekommen. Und da und dort ein bisschen ramponiert.

Es ist nicht so, dass alle hier wegwollen. "Ich bleibe ganz sicher da", sagt Lukas Baumgartner und schiebt sein lila Kapperl in Schräglage. "Es ist gmiatlich in Eisenerz. Es gibt weniger Leute. Die Großstadt ist mir zu stressig." Der 16-Jährige ist Schüler der 2. Klasse der Eisenerzer Handelsakademie. Sein Berufswunsch: Volksschullehrer. Ein krisenfester Job, auch wenn es mittlerweile nur mehr eine Volksschule im Ort gibt. Die zweite hat wegen Schülermangels schließen müssen.

Im Eisenerzer Jugendzentrum dröhnen die Motoren aus den Boxen.
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Seine Freizeit verbringt Lukas gern in der Nähe des Bahnhofes, der wenige Minuten Fußmarsch vom Dorfzentrum entfernt liegt. Züge halten hier schon seit Jahren nicht mehr, das zweistöckige Bahnhofsgebäude ist verwaist. Auch die angrenzende Lagerhalle wird nicht mehr von den ÖBB genutzt. Dort hat vor zehn Jahren Roland Schneider gemeinsam mit seiner Frau Waltraud seinen Motorsportclub (MSC) eröffnet. Irgendwann waren dann mehr Jugendliche als Motorsportler unter den Gästen, und mittlerweile ist neben den MSC-Räumen auch das Jugendzentrum dort untergebracht. Wo der MSC aufhört und wo das Jugendzentrum beginnt, ist nicht klar erkennbar. Das gilt auch für Roland Schneider. Der 53-Jährige ist eine Mischung aus Wirt und Sozialarbeiter: langes, schon ein wenig dünner werdendes graues Haar, Schnauzer und am rechten Unterarm eine Tätowierung: "Lieber aufrecht sterben als kniend leben".

"Soll ma traurig schauen?" Die Eisenerzer haben Erfahrung mit Berichten über ihre Stadt.
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"Irgendwie komm ich mit jungen Leuten gut aus, obwohl ich nicht so ausschau", sagt Schneider, während er an einem warmen Maiabend an einem der Tische vor seinem Lokal sitzt. Den MSC und das Jugendzentrum betreiben die Schneiders nebenbei. Roland arbeitet seit 38 Jahren am Erzberg, Waltraud beim Roten Kreuz. Die Gemeinde unterstützt die beiden und zahlt einen Großteil der Miete. Rund 20 Jugendliche sind da, mehr Burschen als Mädels. Der Schmäh rennt, Motorengeräusche dröhnen aus den Boxen, weil gerade ein Video am Computer läuft, der Lautstärkeregler am Anschlag. Rechts neben der Theke ein Billardtisch und weiter hinten noch ein Sofa.

"Wer Arbeit hat, bleibt hier", lautet der Tenor der anwesenden Runde. Aber das mit der Arbeit ist eben so eine Sache. Neben der VA Erzberg bieten nur eine Handvoll kleine Industriebetriebe Arbeitsplätze in der Gemeinde. Wer dort einen Lehrplatz findet oder bereit ist zu pendeln, hat eine Chance. Garantie gibt es keine.

Dass die Jungen bleiben wollen, überrascht Manfred Tschuchnig nicht. Der 52-Jährige unterrichtet Wirtschaftsinformatik, Geschichte und Geografie an der HAK und wohnt in Eisenerz. "Mit 15, 16 sind sie noch sehr an Heimat und Elternhaus gebunden. Da ist oft der Wunsch der Vater des Gedanken." Insgesamt hätten vielleicht ein Zehntel seiner ehemaligen Schüler in der Region einen ihrer Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz gefunden. Einige sind zwar in den Bankfilialen der Region untergekommen, aber davon gibt es bei weitem nicht so viele, dass für alle Schüler ein Arbeitsplatz vorhanden wäre. Die Lehrplätze in der Gemeinde selbst sind rar. Und wer studieren will, muss sowieso weg.

Von denen, die weggehen, kommt kaum jemand zurück. Lisa Cmager wohnt seit sechs Jahren in Leoben. Vermisst hat sie Eisenerz keine Sekunde: "Hier ist viel mehr los. Von Eisenerz muss ich nach Leoben fahren, wenn ich einen neuen BH brauch." Die 20-Jährige wird kommendes Jahr am BORG, das es trotz Schülerschwund noch immer in Eisenerz gibt, maturieren. Dann will sie sich für das Max-Reinhardt-Seminar in Wien bewerben.

Viele Sachen sind in Leoben einfacher, erzählt Lisa. Ein Kinobesuch zum Beispiel: "Da kann ich sehen, was ich will und wann ich will." Ein Kino im Ort wäre der Wunsch vieler Jugendlicher, denn der Weg ins 30 Kilometer entfernte Leoben dauert mit dem Bus eine Stunde. Und der letzte Bus retour fährt um 20.30 Uhr. Von diesen Wünschen weiß auch Bürgermeisterin Holzweber. Erfüllen kann sie sie nicht. Die Gemeindekassen sind leer. Und ein Kino: Das wäre einfach nicht gewinnbringend zu betreiben.

Eisenerz hat sich damit abgefunden, zu einer kleineren Gemeinde zu schrumpfen. Schätzungen zufolge werden es in wenigen Jahren rund 3.500 Einwohner sein. So viele Eisenerzer gab es schon einmal: Ende des 19. Jahrhunderts, bevor der industrielle Bergbau am Erzberg begann. Vielleicht hätten sie sich damals, als sie der Legende nach ein Wassermann fragte, für zehn Jahre Gold oder hundert Jahre Silber entscheiden sollen. Das hätte nämlich das Fabelwesen den Menschen der Region für seine Freilassung angeboten. Die Eisenerzer haben aber die dritte Möglichkeit vorgezogen: Erz für immer. (Text und Fotos: Michaela Kampl, Grafik: Florian Gossy, derStandard.at, 6.6.2012)