Die von Jürgen Habermas im STANDARD-Interview vertretene These, dass nur eine weitere Vertiefung der europäischen Integration die gegenwärtige Krise an der Wurzel zu packen vermag, scheint einiges für sich zu haben. Und doch enthält sie dort Tücken, wo sie "ökonomische Einsichten" zur Triebfeder eines Prozesses stilisiert, der demokratisch nur mehr nachvollzogen werden kann, wenn sich die Demokraten nicht selbst opfern möchten. Untergangsdrohung schafft aber keine positive Identifizierung, sondern ängstliche Ablehnung.

Hier wird die vorgeschlagene Therapie zum eigentlichen Problem. Habermas ist recht zu geben, wenn er konstatiert, dass die Europäische Einigung bisher von "politischen Eliten über die Köpfe der Bevölkerung hinweg betrieben" wurde, und man kann ihm auch noch folgen, wenn er sich überzeugt gibt, dass es gelingen kann, die Bürger im Rahmen demokratischer Prozesse in die Vertiefung der Europäischen Union einzubinden. Was dann aber folgt, sind Vorschläge für eine Demokratisierung von oben.

Immer wieder wenden sich Kommentatoren mit ihren Forderungen nach mehr Offenheit und Risikobereitschaft an sogenannte "politische Eliten". So fordert auch Habermas einerseits mehr Mut bei der Vertiefung der Europäischen Integration in Richtung einer grenzüberschreitenden Umverteilungsgemeinschaft mit gemeinsamer Finanz-, Wirtschafts- und Sozialpolitik. Andererseits mehr Mut zur Demokratisierung der Europäischen Integration. Eine Demokratisierung - und das ist eine Pointe - gegen demoskopische Mehrheiten. Habermas erklärt mit einem Streich Europa zur Rettung der Demokratie und die Demokratie zur Rettung Europas. Ist das Schicksal der Demokratie einmal mit der Weiterentwicklung der europäischen Integration verknüpft, segelt man ständig hart am Rande der Katastrophe. Um diese zu verhindern, so darf man Habermas verstehen, müssten pro-europäische Parteien in ganz Europa das Risiko eingehen, bei Wahlen herbe Mandats- und damit Machtverluste in Kauf zu nehmen.

Die Antwort, wie sich ein solches Risiko praktisch bezahlt machen könnte, packt der Aufklärer Habermas in eine rhetorische Frage: "Wollen die europäischen Bürger wirklich Suizid begehen?" Es gibt kaum ein besseres Beispiel für die zu lange erfolglos erprobte Strategie der Demokratisierung mit dem Messer des Sachzwanges an der Brust. Einer Demokratisierung, die sich selbst entwertet, indem sie zu einer Partizipation einlädt, in der das ökonomisch bzw. politisch Vernünftige schon vorab von Experten festgeschrieben wurde.

Gerade diese praktische Alternativlosigkeit ist ein Angriff auf demokratische Leidenschaften. Die Vorstellung, dass der moderne Mensch sich in seine natürliche und soziale Umwelt nicht nur einpasst, sondern dazu in der Lage ist, seine Lebensverhältnisse nach seinen Vorstellungen zu gestalten, ist wichtiger Teil des demokratischen Versprechens.

Man erweist der europäischen Idee folglich einen Bärendienst, wenn man sie fortgesetzt im Rahmen einer Logik der Sachzwänge in den demokratischen Prozess einzuführen versucht, und der Bevölkerung formale Mitbestimmungsrechte mit der einen Hand gibt, während man sie ihr mit der anderen de facto wieder abnimmt. Die wiederholten Versuche, den Widerstand gegen weitere europäische Integrationsbemühungen mit dem Verweis auf ein europäisches Demokratiedefizit und eine von den Eliten ungenügend informierte Bevölkerung wegzuwischen, sind weitverbreitete intellektuelle Abkürzungen, die leider in praktische Sackgassen führen.

Dies lässt sich am Habermas'schen Verständnis für den Wutbürger gut erkennen. Der im paternalistischen Geist vorgetragene Hinweis, dass die Bürger nicht vorbereitet und informiert wurden, hat eine zynische Unterseite, solange nicht auch darauf insistiert wird, dass es in Demokratien auch eine bürgerliche Holschuld gibt. In der Idee, dass der Informationsgrad der Bevölkerung vom Willen und Engagement politischer Eliten abhinge, steckt auch ein kaum unterdrückter Elitismus.

"Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!", lautete einmal der Wahlspruch der Aufklärung. Heute warnt die intellektuelle Elite immer seltener vor einem Verharren in selbstverschuldeter Unmündigkeit. Vielmehr gefällt man sich in der Reproduktion eines psycho-politischen Entlastungsdiskurses, der die europäischen Politkonsumenten nicht mehr mit der Zumutung der bürgerlichen Verantwortung für die Qualität des demokratischen Prozesses überfordern möchte.

Die Menschen zu Opfern eines professionellen Polittheaters zu stilisieren, ist sicher gut gemeint. Leider ist es aber auch abwertend und fördert noch die vieldiskutierte Politikverdrossenheit.

So paradox es in manchen Ohren klingen mag: Wenn man Europa auf demokratischem Wege weiter integrieren möchte, wird man davon Abstand nehmen müssen, auf Europa als einziger vernünftiger Lösung zu bestehen. Denn nur so eröffnet sich für Bürger eine wirkliche Chance, sich frei für oder gegen ein bestimmtes Europa zu entscheiden - und mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen zu leben. (Georg Lauß, DER STANDARD, 31.5.2012)