Christoph Chorherr in Bewegung. Was aber tun, um die versteinerten Verhältnisse im Haus hinter ihm zu lösen?

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Jetzt könnte es schnell gehen. Alle Parteien scheinen einig zu sein. Die Krise unserer Demokratie muss überwunden werden, und dem berechtigten Ruf nach "mehr direkter Demokratie" soll gefolgt werden: Verpflichtende Volksabstimmungen seien die Lösung. Noch vor der Wahl 2013 soll darüber entschieden werden - in einer Volksabstimmung, denn es handelt sich dabei um eine Totaländerung unserer Verfassung.

Eigentlich müsste ich jubeln. Politisch geprägt durch die Atomvolksabstimmung 1978, scheint das doch ein großer Fortschritt, eine Überwindung der so offensichtlichen Stagnation unseres politischen Systems zu sein. - Ich juble nicht. Im Gegenteil. Ich ersuche die Parlamentarier meiner Partei, innezuhalten und kühl darüber nachzudenken, ob hier der richtige Weg gegangen wird.

Trauriger Konsens

Bei der Diagnose des Status quo müssen wir uns nicht lange aufhalten. Hier herrscht (trauriger) Konsens. So wie unsere repräsentative Demokratie derzeit verfasst ist, kann sie die wesentlichen Aufgaben kaum lösen. Bildungsreform? Unifinanzierung? Kompetenzbereinigung zwischen Bund und Ländern? Raumordnung? Klimaschutz? Die Liste der Stagnation lässt sich beliebig fortsetzen.

Aber ist die repräsentative Demokratie, der Parlamentarismus per se die Ursache der Stagnation, und muss deswegen durch Volksabstimmungen ergänzt werden?

Hier liegt einer meiner beiden Haupteinwände gegen den vorgeschlagenen Weg. Denn: Österreich hat überhaupt keinen lebendigen Parlamentarismus. Gesetze werden fast nur von der Regierung gemacht. Was zwischen Rot und Schwarz (die Normregierung der Nachkriegszeit) keinen Konsens findet, kommt gar nicht ins Parlament.

Parlamentarische Debatten sind auch deswegen so öde, weil man im Vorhinein längst weiß, welche Standpunkte vertreten bzw. wie dann abgestimmt wird.

Warum ist das so? Weil eigenständige Abgeordnete den gewohnten Betrieb stören würden. Hier, in der absurden Ausgestaltung unseres Parlamentarismus liegt der Kern der Stagnation. Diese muss überwunden werden. Positive Beispiele seinen dafür ein Hinweis. Gelegentlich benötigt die Regierung eine Verfassungsmehrheit. Dann muss sie auch mit der Opposition verhandeln. Das tut sie dann ausnahmsweise dort, wo es eigentlich -auch nach der derzeit bestehenden Verfassung - hingehört, im Parlament (siehe Transparenzpaket oder die Verhandlungen zum Ökostromgesetz).

Die Kernforderung zur Demokratiereform ist schlicht und doch sehr weitreichend: Gesetzgebung wieder (nein, in Österreich erstmals) den gewählten Abgeordneten in die Hand zu geben. - Aber wie?

Hier muss die entscheidende Veränderung einsetzen. Solange Parteien und nicht die Wähler/Innen die Abgeordneten bestimmen, wird sich am System wenig ändern. Abgeordnete der Regierungsparteien, die wieder aufgestellt werden wollen, müssen Wohlverhalten gegenüber ihren (Landes-)Parteien nachweisen. Sie sind denen, und nicht ihren Wählern verpflichtet.

Parlamentarismus wachküssen

Deshalb führt kein Weg daran vorbei, Abgeordnete möglichst unmittelbar ihrer Wählerschaft zu verpflichten. Das heißt nicht Mehrheitswahlrecht. Ein flexibles Vorzugsstimmensystem, wo die wahre Basis jeder Partei, die Wählerschaft, die Kandidaten auswählt, würde unmittelbar und wirksam den Parlamentarismus wachküssen und die Stagnation überwinden.

Einwand zwei gegen das vorgeschlagene Modell der verpflichtenden Volksabstimmung: Es ist ein fundamentaler Fehler, direkte Demokratie mit plebiszitärer Demokratie gleichzusetzen.

In aller notwendigen Kürze: Der allseits beschworene "Wille des Volkes" liegt nicht irgendwo herum. Hans Kelsen, Mitgestalter unserer Verfassung hat sein Leben lang über Demokratie nachgedacht und darüber geschrieben. Es lohnt sein Werk "Wesen und Wert der Demokratie" gerade jetzt zu lesen. Darin spricht er von der "Heteronomie des Willens". Gemeint ist damit, dass in einer Demokratie immer Aushandelsprozesse zwischen verschiedenen Standpunkten letztlich zu Entscheidungen führen.

Demokratie lässt sich in den wenigsten Fällen auf schlichte Ja/Nein-Fragen reduzieren. Sehr viele sehr unterschiedliche Standpunkte müssen in einem Prozess der öffentlichen Aushandlung abgewogen werden. Es ist völlig klar, dass nur so Minderheitspositionen einbezogen werden können. Schließlich ist dieser Prozess der Kompromissfindung auch ein Lernprozess für alle Beteiligten. Eine schlichte Ja/Nein-Entscheidung kann dem nur in Ausnahmefällen Rechnung tragen

Ein (im Gegensatz zu heute) lebendiger Parlamentarismus ist eine enorme Errungenschaft der Zivilisation. Er ist eine Schranke (keine Garantie) gegen das Ressentiment. Dieses ist Gift für eine aufgeklärte Entscheidungsfindung. Alle Befürworter zwingender Volksabstimmungen mögen dies, sowie unsere Medienlandschaft bitte mitbedenken.

Ein Vorschlag: Wenn jetzt ein Wille zur Demokratiereform besteht, könnte die Stunde des Parlaments schlagen. In großen öffentlichen Debatten (Enqueten) mit Exponenten der Zivilgesellschaft möge ein großer Wurf gesucht werden. Aber nicht vorweg mit der abschließenden (falschen) Antwort beginnen! (Christoph Chorherr, DER STANDARD, 1.6.2012)