London/Paris/Genf - Kritisch mit den Beschlüssen des EU-Gipfels im nordgriechischen Porto Karras über die künftige europäische Verfassung setzen sich am Sonntag die konservative britische "Sunday Times" und die konservative "Neue Zürcher Zeitung am Sonntag" auseinander.

"Sunday Times"

"Großbritannien, ein Land ohne geschriebene Verfassung, ist nun in einen Prozess eingebunden, der zu einer EU-Verfassung führen wird. Das mindeste, was Premierminister Tony Blair tun kann ist, sicherzustellen, dass das britische Veto bei Steuerfragen, Verteidigungs-, Außen- und Sicherheitspolitik erhalten bleibt. Falls Blair dieses Ziel erreicht, sollte er anschließend über die EU-Verfassung in einem Referendum abstimmen lassen. Diese Zeitung hat immer die Mitgliedschaft in der EU unterstützt. Aber es ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, harte Fragen über die künftige Richtung der EU zu stellen."

"NZZ am Sonntag"

"Das Projekt einer EU-Verfassung war von Illusionen begleitet, die etwa im kühnen Vergleich mit dem amerikanischen Verfassungskonvent von Philadelphia im Jahre 1774 zum Ausdruck kamen. Das europäische Grundrecht, dessen Entwurf nun vorliegt, konnte nie ein revolutionärer Wurf, sondern immer nur die systematische Sortierung des bisher Erreichten sein.(...)

Die EU-Verfassung wird nicht einmal ansatzweise ein staatliches Gebilde begründen. Dazu fehlt der EU nicht nur das Recht, Steuern zu erheben. Der neue EU-Außenminister wird vor allem den kleinsten gemeinsamen Nenner seiner Amtskollegen in den Mitgliedstaaten verwalten. Nicht einmal die Verfassung selbst wird die EU revidieren können - nur die Mitgliedstaaten können es. Und trotz der Beschwörung des "europäischen Bürgers" wird die Verfassung keine Individualrechte verleihen, die nicht schon jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingeklagt werden können, und zwar nicht nur von EU-Bürgern, sondern zum Beispiel auch von Schweizern.

Verminderung der Vetomöglichkeiten

Was bleibt, ist die Verminderung der Vetomöglichkeiten, die Abkehr von der Rotation bei der Ratspräsidentschaft und vom Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat vollwertig in der Brüsseler Kommission vertreten ist. Das macht die EU effizienter und verhindert, dass ihre Mechanik bald nur noch rotiert wie eine Tinguely-Maschine, statt etwas zu bewegen." (APA/dpa)