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Hubert Védrine: "François Hollande und Angela Merkel werden sich gut verstehen."

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Im Gespräch mit Stefan Brändle skizziert er die Eckpunkte der französischen Außenpolitik.

STANDARD: Nach dem Fall der Berliner Mauer triumphierte Westeuropa. Heute herrscht Katerstimmung. Was ist schiefgelaufen?

Hubert Védrine: Das Ende der Sowjetunion bewirkte eine Hybris. Der Westen hatte keinen Gegner mehr und war blind gegenüber strategischen Veränderungen. Umso größer ist jetzt der Schock, da sich aufstrebende Märkte etablieren. Zudem ist das Wohlfahrtssystem nicht mehr finanzierbar und die Wirtschaft nicht mehr konkurrenzfähig genug.

STANDARD: Steht Deutschland besser da als Frankreich?

Védrine: Strategisch nicht. Deutschland glaubt an den Pazifismus und die "internationale Gemeinschaft". Ein sympathischer Begriff, der kaum zutrifft auf die Wirklichkeit. Frankreich hat damit weniger Mühe. Hingegen steht Berlin wettbewerbspolitisch viel besser da. Aber man muss genau hinschauen: Die Stärke ist relativ, sie beruht auf der Schwäche der übrigen EU-Partner. Außerdem bedroht diese Entwicklung den Euro, und auf den wollen die Deutschen nicht verzichten.

STANDARD: Sie rechnen also nicht mit einem Ende des Euro?

Védrine: Nein. Nicht nur, weil die Deutschen unbedingt daran festhalten wollen: Auch die Franzosen, Italiener und viele andere Länder haben ein ureigenes Interesse, den Euro zu behalten.

STANDARD: Und Griechenland?

Védrine: Das ist etwas anderes. Ein Ausstieg ist denkbar, aber greifen wir der Entscheidung der Wähler nicht vor. Wie auch immer: Griechenland braucht einen ehrgeizigen Marshallplan für eine moderne Wirtschaft, egal ob es im Euro bleibt oder nicht. Ja sogar, wenn es die EU verlässt: Dann muss die EU Chaos verhindern.

STANDARD: Steuern Hollande und Merkel auf einen Konflikt zu?

Védrine: Merkel und Hollande sind sehr rationale Politiker, vorhersehbar und vertrauenswürdig. Wenn sie einmal zu einem Kompromiss gefunden haben, werden sie sich gut verstehen.

STANDARD: Sie gehen von einem Kompromiss beim Fiskalpakt aus?

Védrine: Ja. Frau Merkel wird verstehen müssen, dass es nicht nur Sparmaßnahmen geben wird. Fast alle Regierungen verlangen auch Wachstumsinitiativen. In diesem neuen Pakt wird es staatliche Investitionen geben, aber auch liberale Strukturreformen.

STANDARD: Zu Syrien: Hat Hollande die Option eines Militärschlags lanciert, als er sagte, er schließe eine Operation nicht aus?

Védrine: Hollande sagte bloß, dass er bereit sei, im Sicherheitsrat darüber zu beraten. Selbst wenn es wünschenswert und machbar wäre, ist das unmöglich, solange die Russen nicht mitmachen. Wladimir Putin könnte seinem Land viel Prestige zurückgeben, wenn er sich den Demarchen des Westens, der Türkei und arabischer Länder nicht verschließen würde.

STANDARD: Will Hollande in Syrien das erreichen, was Nicolas Sarkozy in Libyen gelungen ist?

Védrine: Das ist nicht dasselbe. Der entscheidende Punkt in Libyen war die Arabische Liga. Nach ihrem Appell zum Regimewechsel widersetzten sich auch die Russen und Chinesen nicht mehr einem Militäreinsatz. Allein hätte Sarkozy nichts bewirkt. In Syrien hat die Liga bisher keinen Appell zum Regimewechsel erlassen.

STANDARD: Wie bewertet Frankreich den Arabischen Frühling?

Védrine: Frankreich war zuerst überrascht, begegnete der Revolte dann mit viel Sympathie - und weiß jetzt nicht, was tun. Man muss wachsam, geduldig, gesprächsbereit sein.

STANDARD: Wie unterscheidet sich Hollandes Ansatz zur Iran-Politik von jener Sarkozys?

Védrine: Hollande vertritt einen ähnlichen Standpunkt wie US-Präsident Barack Obama. Wichtiger erscheint mir aber die Debatte in Israel selbst. Die überraschende Bereitschaft von Premier Benjamin Netanjahu und seinem neuen Koalitionspartner Shaul Mofaz zu Friedensgesprächen wird es erlauben, einige Extremisten aus der Regierung zu entlassen. Dazu haben mehrere Militär- und Geheimdienstchefs öffentlich erklärt, Netanjahu lenke mit Iran bloß von Palästina ab. Diese Debatte ist nicht zu unterschätzen. (Stefan Brändle, DER STANDARD, 5.6.2012)