Für 72 Prozent der österreichischen Konsumenten ist Nachhaltigkeit beim Wohnen ein wichtiges Thema, wie eine aktuelle Studie der Wiko Wirtschaftskommunikation zeigt; und fast ebenso viele wären bereit, für eine nachhaltige Immobilie mehr zu zahlen - die meisten zwischen 2,5 und zehn Prozent mehr.

Nachhaltigkeit ist auch in den Köpfen der Bewohner angekommen; in der Politik und in der Bauwirtschaft ist es schon seit Jahren ein ständig gebrauchtes Schlagwort. Doch wenn es um die konkrete Ausgestaltung der Nachhaltigkeit geht, dann bleiben zahlreiche Fragen unbeantwortet: Sollen alte Gebäude um jeden Preis thermisch saniert und neue nur noch als Passivhäuser errichtet werden? Oder geht durch höhere Baukosten ein Stück soziale Nachhaltigkeit verloren? Und ist es nicht ebenso wichtig, architektonisch wertvolle Gebäude zu errichten, damit sich Menschen auch noch nach Jahrzehnten drinnen wohlfühlen und nicht nach einer Generation die ökologisch teure Abrissbirne kommt? Braucht die Gesellschaft nicht ebenso kulturelle Nachhaltigkeit?

Einigkeit und Bruchlinien

Das 43. STANDARD-Wohnsymposium widmete sich vergangene Woche in der Wirtschaftskammer Österreich unter dem Titel "Nachhaltigkeit im Wohnbau: Modewort oder Mehrwert?" diesen Fragen. Bei den Experten-, Politiker- und Teilnehmergesprächen gab es viel Einigkeit. Doch in der Frage der Prioritäten traten auf der vom Fachmagazin Wohnen Plus mitorganisierten Veranstaltung einige der oben skizzierten Bruchlinien offen zutage.

Während die Architekten und Nachhaltigkeitsexperten Karin Stieldorf und Martin Trebersburg in ihren Referaten die Passivhaustechnologie im Neubau und die thermische Sanierung alter Gebäude als zentrale Ziele bezeichneten, kritisierte Wolfdieter Dreibholz, der Vorsitzende der Grazer Altstadtsachverständigenkommission, die Überbetonung ökologischer Faktoren auf Kosten architektonischer Qualität. "Die Nachhaltigkeit wird verwendet, um Architektur zu verhindern", warnte er und verwies dabei auf die "Wärmedämmungshysterie in den Achtzigerjahren", die durch die technologischen Fortschritte der Glasindustrie beendet werden konnten, und auf aktuelle grüne Projekte wie ein achtgeschoßiger Holzwohnbau.

"Vom Grundriss her sind das dieselben Kisten, die vor 30 Jahren von Architekten wegen mangelnder Urbanität und Kreativität kritisiert worden sind", sagt Dreibholz, der jahrelang mit Coop Himmelb(l)au zusammengearbeitet hat. "Heute werden diese Produkte hingestellt und unter dem Modewort Nachhaltigkeit ein weiteres Mal verkauft."

Amsterdamer Schule

Als nachhaltigen Wohnbau lässt Dreibholz die Gemeindebauten der Zwischenkriegszeit gelten, die auf die Amsterdamer Schule zurückgehen. "Sie haben bewiesen, dass sie in ihrer Substanz und Haltung auch Renovierungen aushalten und trotzdem markante Teile einer Stadt sind."

In die gleiche Kerbe schlug Architekt Markus Kaplan von BWM Architekten, der nach den traditionellen Tischgesprächen den Vorschlag "Identität schaffen" als besten Weg zu mehr Nachhaltigkeit von Gebäuden präsentierte und dafür vom Symposium zum Sieger gekürt wurde. In Häusern mit Identität würden Menschen gerne möglichst lange wohnen.

Der Sozialmediziner Michael Kunze äußerte hingegen Zweifel an diesem Ziel. Bedürfnisse der Menschen würden sich ändern, und der Wohnbau müsse sich ständig anpassen. Denn "wir sind Nomaden beim Wohnen und unseren Bedürfnissen". Sprüche wie "Einen alten Baum verpflanzt man nicht" würden die wahren Lebenswelten nicht widerspiegeln.

Fokus auf Leistbarkeit

Den Vertretern der Bauträger - Sozialbau-Chef Herbert Ludl und Buwog-Vorstand Gerhard Schuster - galt wiederum die Leistbarkeit und die Kundenzufriedenheit als entscheidendes Kriterium für Nachhaltigkeit, wobei Ludl dies nur im gemeinnützigen und genossenschaftlichen Wohnbau realisierbar sieht: "Der Markt taugt nicht für die Wohnversorgung". Schuster zeigte sich hingegen überzeugt, dass der freie Markt leistbares und bedarfsgerechtes Wohnen bieten kann. "Es ist nicht sinnvoll, eine Einheitsqualität zu liefern, der Wettbewerb der Qualitäten kann unsere Branche weiterbringen", sagte er (siehe Artikel).

Im Politikergespräch zwischen dem Wiener Wohnbaustadtrat Michael Ludwig und dem ÖVP-Wohnbausprecher Johann Singer, Bürgermeister der kleinen oberösterreichischen Gemeinde Schiedlberg - traten die Unterschiede zwischen Stadt und Land hervor, wobei sich beide für mehr Verdichtung im Wohnbau aussprachen. Aber während Ludwig die föderale Struktur der Raumordnung kritisierte, wurde diese von Singer verteidigt.

Nachhaltigkeit, so das Resümee vieler Teilnehmer, sei auch im Wohnbau manchmal ein inhaltsleeres Modewort geworden. Um den Mehrwert zu lukrieren, sei mühsame Kleinarbeit notwendig, nicht nur bei Planung und Bau von Wohnhäusern, sondern auch bei ihrer Nutzung. (Eric Frey, DER STANDARD, 6./7.6.2012)