Der Wiener Gastroenterologe Harald Vogelsang über Stress, die Psyche und gesteigertes Schmerzempfinden.

Standard: Nehmen Reizdarm-Beschwerden, Laktose-Intoleranz und Gluten-Empfindlichkeit eigentlich stark zu?

Vogelsang: Gastrointestinale Störungen im Sinne von Reizdarm und funktioneller Dyspepsie sind tatsächlich auf dem Vormarsch, weil die Belastungen im Berufsalltag und Privatleben zunehmen. Die Arbeitgeber versuchen zu optimieren, Richtlinien werden strenger. Das alles führt zu vermehrtem Stress, und bei so manchem wirkt sich das eben auf den Magen-Darm-Trakt aus. Reizdarm-Patienten spüren bei einer zusätzlichen Laktose-Intoleranz vermehrt Symptome. Die sogenannte Gluten-Sensitivität ist ein in den vergangenen Jahren zunehmend diskutiertes Phänomen. Sie hat aber nichts mit Zöliakie zu tun. Die ist klar genetisch bedingt.

Standard: Welche Ursachen kommen infrage?

Vogelsang: Im Prinzip zweierlei: eine veränderte Darmbeweglichkeit, die schneller oder langsamer sein kann, und eine erhöhte Schmerzempfindlichkeit. Das Gehirn hat die Eigenschaft, unwichtige Signale auszublenden. Bei Reizdarm-Patienten scheint dieser Filter durchlässiger zu sein. Signale aus dem Darm, die Dehnung oder Schmerz anzeigen, werden dann verstärkt wahrgenommen. Das hängt wahrscheinlich mit den Serotonin-Rezeptoren im Gastrointestinaltrakt zusammen, die durch Stress in ihrer Funktion verändert werden.

Standard: Wie gefährlich sind solche Leiden auf lange Sicht?

Vogelsang: Es handelt sich beim Reizdarm um funktionelle Störungen und nicht um organische. Deshalb sind sie im Prinzip völlig ungefährlich. Sie führen aber mitunter zu erheblichen sozialen und psychischen Problemen und ernsthaften Einschränkungen der Lebensqualität. Etwa 60 Prozent der Betroffenen leiden unter depressiven Störungen. Bei Laktose-Intoleranz und Gluten-Sensitivität gibt es kein Gefahrenpotenzial, doch eine unerkannte Zöliakie kann zu Osteoporose, Autoimmunerkrankungen, Lymphomen und Fehlgeburten führen.

Standard: Welche Therapiemöglichkeiten empfehlen Sie bei chronischen Reizdarm-Beschwerden?

Vogelsang: Den Beschwerden angepasst, kann man entkrampfende, abführende oder durchfallhemmende Mittel verabreichen. Die ursächliche Behandlung führt aber nur über psychosomatische Entspannungstherapien bis hin zur Hypnose. (Harald Vogelsang, DER STANDARD, 11.6.2012)