Eben n-tv gesehen. "Gelegentlicher" Kokainkonsum lautet die teletext- Schlagzeile. Es geht um Michel Friedman, um wen sonst in dem so sorgenreichen Deutschland? Kein Fragezeichen, demnach auch kein Zweifel, obwohl es im Bericht dann lediglich heißt, dass die Mutter aller deutschen Boulevards, aus hessischen Justizkreisen erfahren haben will, dass Friedmans Haaranalyse zu diesem Ergebnis geführt haben soll.

Mutmaßungen, nichts als Mutmaßungen gibt es nun seit Tagen über den Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland. Mutmaßungen, die zu scheinbaren Fakten werden; Scheinfakten, die zu Verurteilungen führen, obwohl die amtlichen Ermittlungen erst in einem Frühstadium sind; private Details, die zu einem Offizialdelikt aufgebauscht werden, als hätte hier jemand ein Gewaltverbrechen begangen.

Wenn es in Deutschland einen Skandal gibt, dann ist es nicht einer, den Friedman verursacht hat, sondern Justiz und Medien. Beide Gewalten zeigen hier, wie tief die Krise des deutschen Rechtsstaates ist. Die Justiz, die den Rechtsstaat gewährleisten sollte, stellt jemanden an den Pranger, weil dieser angeblich bei irgendwelchen Prostituierten war, und verhält sich dabei ärger als jede Hure, indem sie ihre angeblichen Ermittlungsergebnisse frei Haus in fast jede Redaktion liefert. Das tat sie übrigens auch bereits im Fall Möllemann, als sie erst mit den Hausdurchsuchungen begann, nachdem die Kamerateams der deutschen Fernsehanstalten vor Ort in Stellung gegangen waren. Und die Medien deren Kontrollfunktion als vierte Gewalt im Rechtsstaat überaus notwendig wäre begeilen sich an angeblichen Fakten, die vielleicht gar keine sind, und wälzen diese solange aus, bis aus Michel Friedman, dem angeblich gelegentlichen Kokainkonsumenten und vorgeblichen Freier von ukrainischen Prostituierten, ein – natürlich zufällig jüdisches – Monster geworden ist, das, und so läuft bekanntlich die gewünschte öffentliche Assoziationskette, in illegalen Menschenhandel verwickelt ist. So bestätigen es ja auch schon die Umfragen, die allen Ernstes zu diesem Fall eingeholt werden: Friedman soll zurücktreten, vom Bildschirm verschwinden, und am besten wäre es, würde er auch gleich das Land verlassen, er, der sich des deutschen Philosemitismus als so unwürdig erwiesen hat.

Vergangenen Sonntag war ebenfalls auf n-tv einer der Landesmeister der Friedman- Jagd zu sehen, und zwar der Chefredakteur des stern. Satz um Satz machte jener dort aus Friedman eine de facto kriminelle Existenz, ehe er in lautes Wehklagen ausbrach, wie einsam der Vizepräsident des Zentralrates der Juden in Deutschland sein müsse, wenn dieser, der sich doch wie alle Prominenten nach Freundschaft, Zuneigung und Liebe sehne, nicht bei anständigen Menschen lande, wie es selbstverständlich stern-Redakteure sind, sondern bei unanständigen und illegalen ukrainischen Prostituierten.

Um dieser öffentlichen Trauerbezeugung über einen angeblich so tief Gefallenen ein persönlich-moralisches Rüstzeug und sich selbst die nötige Kompetenz zu geben, ergänzte der stern-Chefredakteur, dass er eigentlich und nach wie vor ein Freund Friedmans sei, er sei nämlich mit ihm in die Schule gegangen.

Jetzt erst wissen wir's: Es ist die Zuneigung der deutschen Journalisten, ein Akt der Caritas, der sie zur öffentlichen Hinrichtung des Vizepräsidenten des Zentralrates der Juden in Deutschland motiviert. Durch Strafe wollen sie ihn läutern, damit der Jude Friedman ihrer Liebe wieder würdig wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 24.6.2003)