Mutter mit Bildern ihrer verschwundenen Söhne.

Foto: Reiner Wandler

Algerien stellt sich seiner Vergangenheit. Der Staat entschädigt die Familien der Opfer auf beiden Seiten des blutigen Konfliktes in den 1990er Jahren, in dem das nordafrikanische Land nach dem Abbruch der ersten freien Wahlen im Januar 1992 versank.

Merouane Azzi, Präsident für die Instanz zur Anwendung der Charta für Frieden und Aussöhnung - ein Programm von Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika, das per Volksabstimmung angenommen wurde - veröffentlichte jetzt die Zahlen seiner jahrelangen Arbeit.

Entschädigung und Amnestie

Die Familien von 7.020 in den Händen der Armee oder Polizei Verschwundener wurden entschädigt. 80 Fälle stehen noch aus. Von 17.000 erschossenen Terroristen wurden bisher die Angehörigen von 11.000 entschädigt. 7.500 reumütige Terroristen wurden amnestiert und konnten ins zivile Leben zurückkehren.

Außerdem kümmert sich die Instanz um 500 Kinder, die in den Lagern der islamistischen Kämpfer in den Bergen geboren wurden. In 40 Fällen konnte die Vaterschaft festgestellt werden. Die Kinder wurden ordentlich ins Geburtsregister eingetragen. Bei den restlichen Fällen will Azzi die Vaterschaft mit Hilfe eines DNA-Tests festzustellen lassen. Er forderte die Sicherheitskräfte auf, ihm Zugang zu den Archiven zu verschaffen, in denen die DNA-Proben gefallener und inhaftierter Islamisten aufbewahrt werden.

Am liebsten würde Azzi die betroffenen Kinder nur mit den Daten ihre Mütter registrieren. "Doch es gibt in Algerien noch immer Gesetze, die auf der Religion basieren und außereheliche Kinder nicht anerkennen", bedauert der Anwalt.

Konzentrationslager in der Sahara

Insgesamt wurden im ganzen Land 60.000 Anträge auf Entschädigung gestellt. 32.000 wurden von der Instanz unter Azzi zugelassen. Die Fälle der 15.000 bis 18.000 Mitglieder der nach ihrem Wahlsieg verbotenen Islamischen Heilsfront (FIS), die in Konzentrationslager in der Sahara verschleppt wurden, konnte Azzi nicht berücksichtigen. "Die meisten haben keine Beweise, die ihre Festnahme belegen", sagt der Anwalt. "Es waren keine normale Verhaftungen, sondern ein vom Innenministerium veranlasster Verwaltungsakt. Das macht es für sie so schwierig, vor Gericht zu gehen", sagt Azzi und verweist darauf, dass die Behörden gefragt seien. "Die Autoritäten verfügen über die Namen."

Insgesamt sollen 200.000 Algerier im "dunkeln Jahrzehnt" ihr Leben verloren haben. (derStandard.at, 15.6.2012)