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Ein Anhänger der Muslimbruderschaft demonstriert am Tahrir-Platz in Kairo.

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Prof. Henner Fürtig ist am GIGA-Institut in Hamburg tätig. 

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Das Parlament aufgelöst und die Kompetenzen des zukünftigen Staatsoberhaupts stark eingeschränkt: Ägyptens Militärführung hat in den letzten Tagen eindeutig bewiesen, dass sie vorerst keine Machtbefugnisse abgeben will. Weshalb das aber nur Teil einer längeren Entwicklung ist, in der es bald zu neuen Protesten kommen könnte, erklärt Nahost-Experte Henner Fürtig im derStandard.at-Interview. Zudem führt er auch einen Grund an, warum Ex-Regierungschef Ahmed Shafik ein besserer Präsident für den Demokratisierungsprozess wäre als Muslimbruder Mohammed Mursi.

derStandard.at: Die Revolution ist tot, sagen viele Ägypter nach den Ereignissen der letzten Tage. Stimmen Sie zu?

Henner Fürtig: Das ist eine verständliche Reaktion, die Menschen sind natürlich enttäuscht. Sie sind mit der Präsidenten-Stichwahl beschäftigt und quasi im Verborgenen, mitten in der Nacht verkündet das Militär eine weitreichende Verfassungsänderung. Das war schon ein geschickter Schachzug. Aber das ist Teil einer langen widersprüchlichen Entwicklung mit Höhen und Tiefen. Es wäre vermessen, von einem Abbruch dieser Entwicklung zu sprechen. Wir müssen da in ganz anderen Zeiträumen denken.

derStandard.at: Welche Zeiträume wären das?

Fürtig: Betrachtet man andere Revolutionen in der Geschichte, dann muss man Ägypten einfach mit mehr Geduld betrachten. Es ist möglich, dass sich die Herrschaft des Militärs konsolidiert und die neue Verfassung restriktiver ausfällt. Die nächsten sechs bis neun Monate kann es also zu einem deutlichen Rückschritt kommen. Aber das bedeutet nicht, dass die Gesamtentwicklung in Ägypten zu einem Ende gekommen ist, dafür ist es viel zu früh. Man muss ja bedenken, dass der Sturz des Regimes Mubarak erst im Februar 2011 erfolgt ist.

derStandard.at: Was wäre denn der nächste Evolutionsschritt?

Fürtig: Der nächste entscheidende Termin wird der Donnerstag sein. Sollte Ahmed Shafik die Präsidenten-Stichwahl gewinnen, dann verändert das die Kräfteverhältnisse im Land. Auf der einen Seite gibt es den zivilen Präsidenten und das Militärregime, auf der anderen die Demonstranten vom Tahrir-Platz und die islamistischen Kräfte. Dann wird es wieder zu umfangreichen Protesten kommen, die Leute werden die Entscheidung nicht kampflos hinnehmen. Es kann auch wieder zu Gewaltopfern kommen, das kann niemand ausschließen. Die Frage ist, ob das Militär danach zu weiteren Zugeständnissen bereit ist. Aber die letzten Monate haben gezeigt, dass es nachgibt, wenn der Druck von der Straße groß genug ist. Es ist ja nicht so starr und politisch unfähig, dass es darauf nicht reagieren könnte.

derStandard.at: Welches Szenario wird sich abspielen, wenn Mohammed Mursi die Stichwahl gewinnt?

Fürtig: Mursi wird ein Präsident mit stark beschnittenen Kompetenzen sein. Er muss bei allen Entscheidungen das Militär konsultieren und ist daher alles andere als der Herr seines Staats.

derStandard.at: Was wird sich bei dieser Konstellation auf den Straßen Ägyptens abspielen?

Fürtig: Dann haben wir klassische Trennung zwischen der Militärführung und dem zivilen Bereich, der von einem islamistischen Präsidenten geführt wird, dessen Kompetenzen gerade stark eingeschränkt wurden. Auch da stehen die Zeichen auf Gewalt und Konfrontation.

derStandard.at: Welcher Präsident wäre denn förderlicher für den demokratischen Prozess?

Fürtig: Sollte Shafik gewinnen, hat der Zeitplan des Militärs trotz aller Proteste eine Chance, durchgesetzt zu werden. Demzufolge soll ein von ihnen ernanntes Gremium eine neue Verfassung schreiben, auf deren Grundlage dann Parlamentswahlen - frühestens im Herbst - stattfinden würden. Dann könnte sich die Gegenseite immer noch sagen, dass die "Konterrevolution" besiegt werden kann, aber eben nicht durch Gewalt, sondern ein weiteres Mal an der Wahlurne. Mit Mursi als Präsident ist das schon unwahrscheinlicher.

derStandard.at: Angenommen, im Herbst kommt es tatsächlich zu neuen Wahlen, angenommen, die Muslimbrüder stellen wieder die stärkste Kraft: Wie wahrscheinlich ist es, dass sich die Ereignisse der letzten Tage wiederholen und Ägypten in einem Teufelskreis versinkt?

Fürtig: Das kann man nicht ausschließen. Aber auch das Militär agiert ja nicht im luftleeren Raum, es ist in hohem Maße von den USA abhängig. Es erhält schließlich von den Vereinigten Staaten etwa zwei Milliarden US-Dollar im Jahr. Und Außenministerin Hillary Clinton hat erst vor Kurzem unzweideutig gefordert, dass der demokratische Prozess in Ägypten fortgesetzt werden muss. Kommt es in den nächsten Monaten nicht zu einer Weiterentwicklung, dann wird es sicherlich eine entsprechende Reaktion aus Washington geben.

derStandard.at: Und inwiefern kann oder soll die Europäische Union Einfluss auf die Situation in Ägypten nehmen?

Fürtig: Die EU hat sich im Arabischen Frühling relativ spät zu Wort gemeldet. Daher kann man jetzt schon ein deutliches Statement erwarten, dass man diese Winkelzüge des Militärs nicht duldet und fordert, dass der demokratische Weg der Umgestaltung fortgesetzt wird. (Kim Son Hoang, derStandard.at, 19.6.2012)