Europa bekommt die Eurokrise scheinbar nicht in den Griff. Spanien braucht bereits Hilfen für seine angeschlagenen Banken, Italien wackelt, dazu noch das Drama mit den Griechen: viel Gesprächsstoff für einen Vierergipfel, der am Freitag pünklich vor dem Anpfiff des Spiels Deutschland gegen Griechenland beendet sein soll. Denn die deutsche Kanzlerin Angela Merkel will das Spiel nicht verpassen. Ein Umstand, den Börsenexperte Thomas Grüner im Gespräch mit derStandard.at nur schmecken kann. Denn seiner Meinung nach sollte sich die Politik ohnehin tunlichst von der Wirtschaft fernhalten. Genauso wie die Unzahl an Schlaubergern. Nur so sieht Grüner eine Chance für die Wirtschaft, wieder auf die Beine zu kommen.
derStandard.at: Man hat den Eindruck, Politik und Wirtschaft tun alles, um die Finanzmärkte zu beruhigen. Nun holt Moody's zu einem Rundumschlag aus und stuft 15 internationale Banken herab. Was ist in die Ratingagentur gefahren?
Grüner: Es ist ein großer Irrglaube zu denken, Politiker können zur Beruhigung der Finanzmärkte beitragen. Die Finanzkrise ist zum allergrößten Teil mit dem Mittun von Politikern hausgemacht. Das ständige Eingreifen von außen in die Wirtschaft geht in aller Regel völlig am Thema vorbei. Die jüngste Abstufung durch Moody's ist nichts anderes als das typische Spiel von Ratingagenturen. Sie sind im Grunde genommen wie Gerichtsmediziner: kommen immer zu spät, um dann festzustellen, dass der Patient bereits tot ist.
Bei den Banken verhält es sich nicht anders. Die Realität gibt das Rating vor, die Agenturen passen die Schulnote dann einfach an, sprich: laufen den Entwicklungen stets hinterher. Man erinnere sich nur an die Abstufung der USA durch Standard & Poor's im vergangenen Sommer. Was haben Experten schon den Teufel an die Wand gemalt, weil sie fürchteten, dass die zehnjährigen Renditen in den USA nun durch die Decke schießen! Tatsächlich aber war das Gegenteil der Fall. Die Renditen sind nach der Abstufung sogar deutlich gefallen. Kein seriöser Investor nimmt Ratingagenturen mittlerweile mehr ernst. Denselben Rat gebe ich der Politik und der Öffentlichkeit.
derStandard.at: Trotzdem werden die Banken immer unberechenbarer und machen den Finanzmärkten das Leben schwer. Werden die Geldgeber nun noch vorsichtiger?
Grüner: Das übergeordnete Thema ist nach wie vor Angst: vor Inflation, vor Deflation, vor steigenden Ölpreisen, vor fallenden Ölpreisen, vor steigenden, vor fallenden Zinsen. Die Einstellung zu den Banken ist gerade in Deutschland äußerst schizophren: Da wollen Kunden aufgrund von Misstrauen bloß keine Bankaktien in ihrem Depot, horten aber ihre - zum Teil gigantischen - liquiden Mittel bei der Bank. Was sie dabei oft nicht bedenken: Mit ihrem Tages- oder Festgeld geben sie der Bank einen fast unverzinsten Kredit in beträchtlicher Höhe, nur um einem vermeintlichen Risiko auszuweichen - und sitzen dadurch einem großen Missverständnis auf: Sie denken, wir befänden uns in der größten Bankenkrise aller Zeiten, und vergessen leider, dass die Banken heute eine viel höhere Eigenkapitalquote haben als noch vor ein paar Jahren.
derStandard.at: Machen wir einen Sprung über den großen Teich: Die US-Notenbank hat jüngst mit der "Operation Twist" nur das Minimum dessen geliefert, was sich der Markt erwartet hatte. Sie erkauft sich damit zwar Zeit, verzichtete aber auf die kraftvollere Waffe, nämlich eine dritte Runde direkter Anleihenkäufe auszurufen. Warum?
Grüner: Die US-Notenbank hat erkannt, wo das eigentliche Problem liegt: In der Wirtschaft herrscht große Unsicherheit. Kein Wunder, kommt doch fast täglich irgendein Schlauberger mit einem neuen Patentrezept daher, wie man angeblich aus der Krise kommt. Doch aus welcher Krise? Geld ist genügend da: Noch nie zuvor in der Geschichte sind so viele Privatleute und Unternehmen auf derart riesigen Geldbergen gesessen.
Schaut man sich darüber hinaus die Verschuldung von Land zu Land an, sieht man, dass der Anteil an Zins und Schulden und Tilgungszins prozentual schon einmal sehr viel höher war als heutzutage. Für die "stabilen" Staaten wird es außerdem zunehmend leichter, sich billiges Geld zu verschaffen. Trotzdem erleben wir eine Vertrauenskrise. Und genau hier setzt die Fed an: Sie will weg von der Geldflutung des Marktes und stattdessen Rahmenbedingungen für einen relativ langen Zeitraum schaffen, damit Verlässlichkeit und Berechenbarkeit wieder zurückkommen.
derStandard.at: Aber es gibt eine Menge Hinweise auf Konjunkturabkühlung, die die Märkte belasten: Der US-Arbeitsmarkt kommt langsamer in Schwung als erwartet, der Einkaufsmanager-Index in China ist seit Monaten rückläufig, der Ölpreis ist seit März um ein Drittel zurückgekommen, der Dow erlebt den zweitgrößten Tagesverlust des Jahres ...
Grüner: Man darf diese Hinweise nicht besonders ernst nehmen. Es ist ein Fehler, auf Tagesbewegungen zu achten und dabei das Gesamtbild zu vergessen. Der Dow Jones hat seit Jahresbeginn drei Prozent zugelegt, der Nasdaq etwa zwölf Prozent, der S&P 500 rund fünf Prozent und der Dax rund sieben Prozent. Wo also ist die große Krise?
Die Konjunkturdelle, die wir jetzt sehen, ist keine Rezession, die Krise spielt sich in Teilbereichen in Europa ab. Aber auch hier erweist sich die europäische Wirtschaft als erstaunlich robust, wenn man bedenkt, dass ein Gipfel den nächsten jagt, eine Abstufung die andere. Wenn man die Wirtschaft einfach in Ruhe lassen würde, würde sich alles von alleine regeln. Jedwede Politikereingriffe verschiedener Länder und mit verschiedenen Interessen oder das Reinpfuschen der Notenbanken trägt nur noch mehr zur Verängstigung der Akteure bei. Es erinnert an die Fußball-EM: Jeder spielt gegen jeden und niemand zusammen.
derStandard.at: Was ist eigentlich mit den Bazookas der EZB und ihren extrem günstigen Krediten. Können die nichts verbessern?
Grüner: Das Prozedere läuft eigentlich immer gleich: Die US-Notenbank beschließt eine Maßnahme, unter den europäischen Politikern und in der EZB gibt es einen Aufschrei, diese sei übertrieben und riskant. Es hagelt also erst einmal Kritik. Anschließend wartet Europa ein halbes oder ein ganzes Jahr ab, bis die Kritik vergessen ist, um dann die gleichen Schritte wie die Fed zu setzen. Die Fed ist diejenige, die immer wieder neue Instrumentarien ausprobiert und am Markt einsetzt - nach einer gewissen Karenzzeit geht die EZB mit dieser Idee schwanger. Selbst die "Operation Twist" hat die EZB von der Fed abgekupfert, denn sie merkte bald, dass diese der Stabilisierung der Märkte dient.
derStandard.at: Das Vierertreffen am Freitag in Rom wurde auf Wunsch von Merkel um mehrere Stunden vorgezogen, da sie am Abend bei der EM-Viertelfinalbegegnung der deutschen Mannschaft gegen Griechenland dabei sein wollte. Wie ernst nimmt die Kanzlerin den Gipfel?
Grüner: Das ist eine rein technische Frage. Frau Merkel ist Physikerin und von daher schon sehr pragmatisch. Setzt man den Gipfel ein paar Stunden früher an, hat man das Ganze a) schneller hinter sich und b) mehr Zeit für die persönlichen Abendstunden. Die Uhrzeiten der Gipfel bergen viel Interpretationsspielraum für die Öffentlichkeit. Ein Grund, warum viele Entscheidungen in der Nacht fallen, ist wohl, dass man der Welt vorgaukeln will, Tag und Nacht an der Krisenlösung zu arbeiten. Wenn ich mir vorstelle, in meinem Unternehmen um 3 Uhr in der Nacht eine Sitzung anzuberaumen, würde sich jeder Sorgen um meinen Geisteszustand machen. (Sigrid Schamall, derStandard.at, 22.6.2012)