Man muss sich als ambitionierter Koch schon vorsätzlich vom Gang der Welt abkoppeln, um die nordische Revolution des guten Essens nicht als bleibende und richtungsweisende Entwicklung zu erkennen. Zu vielfältig und differenziert stellt sich die Besinnung auf einen eigenständigen, vom Willen zu Innovation und Nachhaltigkeit bestimmten Weg in den Küchen Skandinaviens mittlerweile dar.
Im Wochentakt schießen neue Restaurants aus dem Boden, und man kann sich nur wundern, wo all diese weltoffenen, in den besten Küchen Spaniens, Frankreichs oder Englands ausgebildeten jungen Küchenarbeiter herkommen, die sich nun ausgerechnet ihren hohen Norden als jenen Ort aussuchen, an dem sie lokal verwurzeltes Essen kochen.
Gekocht auf Haushaltsgeräten
Ein spannender Neuzugang ist etwa das Restaurant Kadeau von Nicolai Nørregaard und Theis Brydegaard (frisch aus dem Fat Duck von Heston Blumenthal) im Kopenhagener Stadtteil Vesterbro. Das winzige Lokal ist zu klein für eine ordentliche Küche, die wurde deshalb hinter der Schank untergebracht - die Köche teilen sich den knappen Platz mit den Kellnern, die Gäste haben stets freie Sicht auf das, was am Herd passiert.
Auf die Qualität der Gerichte wirkt sich das nicht aus: Eben wurde das Kadeau zum besten neuen Restaurant der Hauptstadt gekürt. Die Köche arbeiten noch dazu auf Haushaltsgeräten. Okay, es sind richtig edle Teile wie das neue und bei Küchenaficionados heiß begehrte Vollflächeninduktionskochfeld von Gaggenau (erkennt die Topfgröße automatisch, Pfannen können beliebig herumgeschoben werden): "Wir haben nach etwas gesucht, das Platz spart und dennoch eine Leistung bringt, die sich an jener von Profi-Geräten orientiert", sagt Nørregaard.
Der Hype um das Restaurant rührt aber woanders her: Die Küche verwendet so gut wie ausschließlich Zutaten, die von der süddänischen Insel Bornholm stammen, der Heimat Nørregaards. Dort gibt es schon seit Jahren ein Kadeau, aufgrund der vielen Fans sahen die Betreiber sich genötigt, nun in der Hauptstadt als kulinarische Botschafter aufzutreten.
Süß-Bitter-Scharf-Akkorde
So werden etwa fette, getauchte Jakobsmuscheln kurz eingesalzen und roh aufgeschnitten, um mit einem Gelee von in Essig eingelegten Nachtkerzen, hauchdünn aufgeschnittenem Kohlrabi und den scharfaromatischen Blüten des Strandsenfs kombiniert zu werden: leicht, erfrischend und von verblüffenden Süß-Bitter-Scharf-Akkorden bestimmt. Die besonders süßen Kartoffeln von der Insel werden für ein Dessert zu Chips frittiert und mit geräuchertem Karamell und Algen kombiniert.
Wie stets in Kopenhagen werden derlei hochkarätige Kompositionen ganz unbeschwert, betont lässig, aber überaus freundlich serviert und dem Gast nahegebracht. Dass die Menüs für ein Hochpreisland wie Dänemark fast schon besorgniserregend niedrig sind, quittiert Nørregaard mit einem müden Lächeln: "Wir kochen, weil wir davon leben müssen. Aber auch, weil wir stolz drauf sind, endlich zeigen zu können, was unsere Insel hergibt". (Severin Corti, Rondo, DER STANDARD, 29.6.2012)