Walter Ötsch: "Drei Schritte zurück und versuchen zu verstehen, warum die Politik bisher gescheitert ist."

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Der Fiskalpakt wird die Abwärtsspirale beschleunigen, ist sich der Ökonom sicher.

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Der Ökonom Walter Ötsch hat gemeinsam mit anderen Prominenten einen Aufruf unterzeichnet, der unter dem Titel "Europa neu begründen" um Gehör wirbt. Die Umdeutung der Finanz- und Wirtschaftskrise in eine Staatsschuldenkrise mit entsprechend nationalistischen Untertönen stelle Ursache und Wirkung auf den Kopf, heißt es da. Warum Ötsch den Fiskalpakt für vollkommen verkehrt hält und für Europa derzeit schwarz sieht, erklärt er im derStandard.at-Interview.

derStandard.at: Herr Ötsch, Sie sind Kulturwissenschaftler und Ökonom. Welche Funktion schlägt durch, wenn Sie den Aufruf "Unser Europa neu begründen" unterschreiben?

Ötsch: Mein Thema ist die Kulturgeschichte des Denkens über die Wirtschaft. Ich erkläre vereinfacht gesprochen den Untergang des Keynesianismus und das Emporkommen des marktradikalen Denkens im 20. Jahrhundert.

derStandard.at: Wo manifestiert sich das in den derzeitigen Diskussionen rund um Euro, Krise & Co Ihrer Ansicht nach?

Ötsch: Man könnte die Frage stellen, was ist die ökonomische Theorie hinter dem Fiskalpakt?

derStandard.at: ... gegen den in dem Aufruf vehement angeschrieben wird. Warum, was spricht gegen Sparen?

Ötsch: Man könnte fachspezifisch sagen, es geht um die Angebotstheorie. Im Hintergrund ist dabei immer die Vorstellung, das Wirtschaftssystem ist im Prinzip sich selbst stabilisierend, das nachfrageorientierte keynesianische Denken wird abgelehnt. Das bedeutet, man muss die Angebotsbedingungen verbessern, wie es etwa in Griechenland und Spanien - Stichwort flexiblere Arbeitsmärkte etc. - gefordert wird. Es ist genau das Denken und zum Teil auch die gleichen Akteure, die vor der Krise die Bedingungen für die ganz große Deregulierung des Finanzsektors gemacht haben.

derStandard.at: Was ist gemeint mit Umdeutung der Staatsschuldenkrise?

Ötsch: Diese ungeheure Umdeutung ist wirklich beachtlich. Die Krise 2007/2008 hat man als Ausnahme und die Staatschuldenkrise quasi zur Regel erklärt, und das Narrativ ist: Wir haben über unsere Verhältnisse gelebt. Man hat die Staatsschuldenkrise völlig von der Krise 2007/2008 entkoppelt. Wenn man sich anschaut, wie sich die Staatsschulden von 2001 bis 2007 entwickelt haben, ist die Empirie absolut eindeutig. Sie sind in der Tendenz gesunken. Man kann das gar nicht oft genug betonen. Das hat überhaupt nichts mit überbordenden Ansprüchen, mit Ausbau des Sozialstaates zu tun. Erst 2008 gibt es den Sprung, und den kann man erklären mit Bankenrettungsprogrammen, Konjunkturrettungsprogrammen, der Built-in-Stability (die eingebauten Stabilisatoren, Anm.) und den demolierten Wachstumsmodellen von Irland, Spanien, Portugal und Griechenland.

derStandard.at: Andererseits haben sich die Schwerpunkte in der öffentlichen Diskussion schon verschoben. Stichwort: Wachstumsimpulse, die nun Frankreichs Präsident vehement fordert.

Ötsch: Francois Hollande denkt schon anders. Die traditionelle Umdeutung, die die deutsche Regierung und auch die EU-Kommission machen, ist die, dass man sagt, der Stabilitätspakt ist auch ein Wachstumspakt. Wenn ich die Angebotsbedingungen verbessere, dann gibt es Wachstumsimpulse. Man könnte sich jetzt fragen, was ist die Gegenposition?

derStandard.at: Was ist die Gegenposition?

Ötsch: Die Gegenposition könnte eine keynesianische Position sein. Dann ist das ganz klar ein Entzug von effektiver Nachfrage, und wenn ich das in der Krise mache, dann habe ich eine Beschleunigung nach unten. Genau das passiert in den Südstaaten, und es ist zu befürchten, dass das auch in Frankreich oder Italien passieren könnte. Eine institutionelle Deutung müsste heißen, in welcher Weise hat sich das Regelwerk seit 2008 verändert und welche Bedingungen haben sich verändert, dass die Wachstumsmodelle in den Südstaaten gescheitert sind? Das Wachstumsmodell der Nordstaaten könnte man beschreiben als eine Art neomerkantile Lohndumpingpolitik - das gilt weniger in Österreich als in Deutschland - und wird als Erfolgsmodell propagiert.

derStandard.at: ... ist es doch auch für Deutschland oder?

Ötsch: Ja und nein. Wenn man sagt, die Zahlungsbilanz-Ungleichgewichte werden negativ interpretiert, dann ist das auch ein Teil der Problematik. Man könnte ja auch so denken: Im EU-Raum per se ist das ein Nullsummenspiel, und dann heißt das eben, die Deutschen leben auf Kosten der anderen.

derStandard.at: Der Gipfel wird als Wachstumsgipfel tituliert, rund 130 Milliarden sollen auf den Weg gebracht werden. Manche sehen darin Luftbuchungen und ein Mogelpaket. Was erwarten Sie?

Ötsch: Wenn es nur um Umschichtung von vorhandenen EU-Geldern zum Beispiel von Deutschland nach Zypern oder Griechenland geht, dann bringt das für die europäische Situation wenig. Weil gleichzeitig ein Entzug von effektiver Nachfrage durch die Vorgaben des Fiskalpaktes gegeben ist. Der Fiskalpakt ist wirklich schädlich, weil er das europäische Projekt in eine Richtung treibt, die letztlich auch von der breiten Bevölkerung nicht aufgenommen wird.

derStandard.at: Was tun wir dann mit unseren Staatsschulden? Abgesehen davon, dass die Bankenhilfen die Staatsverschuldungen massiv aufgebläht haben - würde nicht mehr Effizienz jedenfalls jedem Staat - und auch Österreich - gut anstehen?

Ötsch: Man bräuchte einen Rahmen der Finanzierung der Eurostaaten, der in gewisser Weise zentralisiert ist wie derzeit in den USA. Da ist die Frage, ob das nicht schon zu spät ist. Es gibt dazu ohnedies Vorschläge wie die Eurobonds. Das hätte man wohl Ende 2008 machen sollen. Alles was danach gekommen ist, hat die Krise verschärft. Der Zickzakkurs Deutschlands wird überhaupt nicht reflektiert. Von den ersten Griechenland-Gesprächen bis heute haben die Deutschen jedes Mal gesagt, wir machen das nicht, und dann wurde es doch gemacht. Man macht also aktive Schritte, um die Krise zu vergrößern, zu vergrößern, zu vergrößern. Jetzt haben wir die Krise des gesamten Euros. Hätte man Griechenland 2008 mit einer Garantie und einer anderen Art von Wachstumspolitik gerettet, wäre das so viel wie ein zyklisches Rauschen gewesen.

derStandard.at: Da sind uns wohl die Banken kräftig dazwischengekommen?

Ötsch: Das Beste, was eine Bank überhaupt haben kann, sind Staatspapiere. Die Staatspapiere können sie der EZB geben, die haben die höchste Bonität, und so können sie sich dann wieder refinanzieren. Eine Spekulation gegen die Staatspapiere hätte man aus politischen Gründen unterbinden müssen. Vermutlich hätte man einmal für ein halbes Jahr oder ein Jahr die Refinanzierung der Staaten von den Finanzmärkten getrennt haben und sich überlegen müssen, welche Art von sicherem Regulativ man haben will. Und in diesem Rahmen muss man klarerweise die Staatsschuld zurückfahren. Wenn das in Griechenland innerhalb von zwei Jahren von 100 auf 160 Prozentpunkte raufgeht, dann ist das nicht haltbar.

derStandard.at: Und wie hätte man das gemacht?

Ötsch: Man hat das jedenfalls auf die schlechtestmögliche Art gemacht. Das Resultat ist, dass wir eine Minikrise hatten, und jetzt haben wir die Krise des gesamten Euroraums. Mit dem Fiskalpakt wird das verschärft, weil das einen Rahmen spannt, der die Wirtschaft in hohem Maße schrumpfen lassen wird. Wenn die Wirtschaft schrumpft, habe ich immer ein zusätzliches Budgetproblem. Die sogenannte Built-in Stability bedeutet, dass, wenn das Wirtschaftswachstum zurückgeht, das Budgetdefizit sich überproportional erhöht.

derStandard.at: Was wäre jetzt die Lösung?

Ötsch: Eine Lösung müsste sein, wirklich Wachstumsimpulse zu setzen. Ich kenne dieses 130-Milliarden-Paket noch nicht im Detail. Meine Vermutung ist: Wenn der Fiskalpakt oder das, was es jetzt schon an Sparprogrammen gibt, greift, ist das ein mehrfacher Entzug von effektiver Nachfrage im Vergleich zu den 130 Milliarden. Das heißt, in Summe habe ich ein Programm, das keinerlei Wachstumsimpulse gibt, sondern, im Gegenteil, das Wachstumsimpulse entzieht.

derStandard.at: Wären Sie jetzt Frau Merkel - was würden Sie tun?

Ötsch: Wäre ich ihr Berater, würde ich sagen: Drei Schritte zurück und versuchen zu verstehen, warum die Politik bisher gescheitert ist. Nachdenken, was wird da gespielt? Regelmäßig gibt es einen EU-Gipfel mit der Verkündung der endgültigen Lösung. Die Folge: Zwei, drei Tage Beruhigung an den Märkten, und dann geht es schlimmer weiter. Der Misserfolg liegt in einem vollkommen falschen Denken in Bezug auf die Ökonomie, nämlich in diesem Selbststeuerungsmodell und in der Missachtung institutioneller Faktoren. Es gibt kein Verständnis dafür, was Fiskalpolitik heißt, was Finanzkapitalismus heißt.

derStandard.at: Und jetzt?

Ötsch: Ich bin sehr pessimistisch. Die großen Gefahren liegen natürlich auf der politischen Ebene, nicht auf der ökonomischen. Wie reagiert die Bevölkerung? Was heißt das für Länder, wenn 50 Prozent der Jugendlichen arbeitslos sind? Wohin wenden sich die politisch? Irgendeine Reaktion wird es geben. Die interessante Frage, die sich mir stellt, ist, wann könnte es Nachteile für Deutschland geben?

derStandard.at: Derzeit noch nicht, die Nachbarn refinanzieren sich praktisch zum Nulltarif.

Ötsch: Es könnte einen Einbruch bei den innereuropäischen Exporten geben. Es könnte auch sein, dass sich die Finanzierungsbedingungen in Bezug auf Deutschland selbst verändern. Deutschland ist ja von einer kleinen Ratingagentur herabgestuft worden. Die Frage ist, ob das die Großen übernehmen. Im Bankensektor ist es ja schon passiert: Die amerikanischen Banken haben sich zum Teil im Herbst aus der Refinanzierung der europäischen Banken zurückgezogen. Wenn die Deutschen Nullzinsen oder negative Zinsen haben, dann glauben sie, es ist ein Erfolg.

derStandard.at: Was spricht gegen diese Interpretation?

Ötsch: Meine Interpretation ist eher, so eine Situation sollten sie als Alarmsignal sehen. Es ist die gleiche Art von Alarmsignal, die wir im Herbst 2008 gehabt haben, wo zweimal die Situation war, dass für die amerikanischen Staatspapiere der Yield, die Ertragsrate, negativ war. Das war genau in der Krise des Interbankenmarktes, wo die Hedgefonds ihre Carry-Trades aufgelöst haben, das war dann die Flucht in Cash und in Treasury-Bills. Die haben einen negativen Yield gehabt, und die Deutschen haben jetzt auch einen negativen Yield. Die Interpretation, die die Deutschen haben, ist: Schaut her, die Anleger vertrauen uns, weil wir so tüchtig sind. Ein negativer Yield ist ein Alarmsignal für absolut gestörte innereuropäische Kapitalströme, stärker geht es gar nicht. (Regina Bruckner, derStandard.at, 28.6.2012)