Für die politische Einschätzung der dramatischen Nachtsitzung des EU-Gipfels von Freitag auf Samstag gilt das, was der französische Denker und Staatsmann Alexis de Tocqueville (1805- 1859) in seinen Erinnerungen schrieb: "In der Politik muss man ebenso denken wie im Krieg und nie vergessen, dass die Wirkung der Ereignisse weniger von diesen selbst, sondern von dem Eindruck abhängt, den diese erwecken."

Die Zeitungsleser und die Zuschauer der TV-Nachrichtensendungen haben die Nachricht vernommen, dass die Schuldenländer Italien und Spanien, mit der Unterstützung des französischen Präsidenten Hollande, in ihrem Drängen nach Finanzhilfen einen Sieg errungen haben und Deutschlands Bundeskanzlerin Angela Merkel eine schmerzliche Niederlage verkraften musste. Ob und wie die deutsche Bundesregierung ein Vetorecht hinsichtlich der Abrufung von Mitteln aus den Stabilitätsfonds wird behalten oder ausüben können, ändert nichts an der Richtigkeit der Schlagzeile der Süddeutschen: "Im Intrigantenspiel des italienischen Ministerpräsidenten gerät Angela Merkel in eine Falle, aus der sie nicht mehr herauskommt."

Es war geradezu symbolträchtig, dass der Londoner Economist am Vorabend des Gipfeltreffens mit dem Titel "Montis Kampf ums Überleben" die Schlussfolgerung zog, dass keiner der europäischen Politiker nach einem Fiasko in Brüssel so viel zu verlieren hätte wie der italienische Regierungschef. Laut jüngsten Umfragen meinen nur weniger als ein Drittel der Italiener, dass Montis Regierung erfolgreich sei. Durch die Drohung Montis und des spanischen Regierungschefs Rajoy, die Zustimmung zum Wachstumspakt ohne finanzielle Zugeständnisse zu verweigern, geriet Angela Merkel in die Falle. Der Wachstumspakt war nämlich eine Bedingung der deutschen Opposition, um dem Stabilitätspakt zuzustimmen.

Mit der Unterstützung Hollandes und erst recht mit dem Beitrag der SPD und der Grünen hat sich Montis Hasardspiel ausgezahlt. Angela Merkel, die bereits seit Monaten als der eigentliche Bösewicht Europas auch von den britischen und amerikanischen Medien angegriffen wurde, habe "die Nerven verloren und weitere rote Linien geräumt" (so die Welt). Dem enormen Druck von innen und von außen musste sie nachgeben.

Man wird sehen, ob es Merkel und anderen noch gelingen wird, gegenüber dem Drängen der Schuldenstaaten nach erleichterter Kreditvergabe neue Sicherungs- und Kontrollmechanismen einzubauen. Die Verschiebung zu einer Transferunion, früher oder später auch durch Eurobonds, zu einer Haftungsgemeinschaft mit zu wenig Kontrollmöglichkeiten kann im Spannungsfeld von nationalen Interessen und ökonomischer Vernunft kaum mehr aufgehalten werden. Nach der Kehrtwendung Montis und der in der Krisennacht offensichtlich gewordenen Zäsur für die deutsch-französische Zusammenarbeit sind die Aussichten auf nachhaltige Reformen in den Krisenländern trüb. Die rhetorischen Bekenntnisse von Schuldenabbau und Aufschwung können über die Erpressbarkeit Deutschlands (auch Österreichs und der Niederlande) nicht mehr hinwegtäuschen. (Paul Lendvai, DER STANDARD, 3.7.2012)