Eine Diskussion, die von Muslimen handelt, aber unter Ausschluss von Muslimen erfolgt, ist wahrlich keine Seltenheit in diesem Land. Im Grunde ist es die Quintessenz aller Diskussionen rund um Islam und Integration.

Nun sind wir also beim Thema Zirkumzision angekommen (derStandard.at hat über das Urteil von Köln berichtet): Über etwaige Vor- und Nachteile der männlichen Beschneidung zu sprechen soll Aufgabe von medizinischen Fachtagungen bleiben.

In dieser Diskussion wird kritisiert, dass dem Kind eine Entscheidung abgenommen werde, und es sei gar ein krasser Fall von Menschenrechtsbruch, wenn die muslimischen oder jüdischen Eltern ihren Sohnemann beschneiden lassen. Selbst Vergleiche mit der sogenannten "Beschneidung" bei Frauen, die tatsächlich nichts anderes als Verstümmelung im Dienste patriarchaler Gesellschaftsnormen ist, werden nicht gescheut. Der Rechtsstaat wird ebenso gerne bemüht, wenn es doch um das Kindeswohl gehe.

Illusion vom neutralen Rechtsstaat

Doch an dieser Stelle sollten gerade linksliberale Geister aus Medien und der Zivilgesellschaft, die diese Diskussion (mit-)führen und (mit-)angefacht haben, innehalten. Denn sie bedenken nicht, dass das Einstehen für einen totalen (nicht totalitären) Staat, der sich selbst in die intimsten Entscheidungen von Eltern und damit mündigen und steuerpflichtigen Bürgern einmischen kann und darf, kein progressiver Akt ist, sondern das berüchtigte Spiel mit dem Feuer. Heute mag es um Beschneidungen bei muslimischen und jüdischen Buben gehen, die wir gesellschaftlich ächten wollen, aber bereits morgen kann es ebenso die Gesamtgesellschaft treffen, wenn sich ein Staat mit einem solchen Verständnis diese Grenzen hin zur Eigenverantwortung seiner BürgerInnen nicht mehr auferlegen lassen will. Wer den Staat für die bessere Adresse zwecks Kindererziehung hält, der soll sich einmal in staatlichen Kinderheimen umsehen.

Apropos Rechtsstaat. Der Rechtsstaat ist kein Abstraktum, er wird von Menschen "betrieben" und steht im Verdacht, gesellschaftliche Missstände abzubilden und damit zu perpetuieren oder, anders ausgedrückt: Wenn ein Rechtsstaat zu knapp 100 Prozent in den Händen der Mehrheitsgesellschaft ist (Judikative, Legislative, Medien ...), dann kann man keine allgemein verbindlichen Normen festlegen, da es eingedenk der Struktur des "Personals" nicht legitim ist.

Eine kleine Elite von Menschen, die die Mehrheitsgesellschaft repräsentiert, soll mit einer an Obsession grenzenden hysterischen Begeisterung für die muslimische Präsenz in Österreich und Europa (siehe Schächtverbot, Moscheenbau ...) muslimischen BürgerInnen vorschreiben dürfen, wie sie ihr Kind zu erziehen und zu prägen haben? Wenn der Rechtsstaat missbraucht wird, um immer heftigere Formen der Marginalisierung und "Disziplinierung" im Hinblick auf die gesellschaftlichen "Randgruppen" zu betreiben, dann wird sich selbst ein säkularer Muslim, dessen Vorhaut aus medizinischen (wie kulturellen) Gründen weichen musste, die Frage stellen, wem mit solchen hysterischen Diskussionen um Gebote und Verbote in einer offenen Gesellschaft gedient sei, wenn nicht einer gewissen gesellschaftlichen Neigung hin zur Marginalisierung von "Randgruppen" (der Volksmund würde dies vielleicht als "Moslembashing" bezeichnen).

Wenn eine Mehrheit diktiert und auf den in (Formal-)Recht und Gesetz gegossenen Volkswillen verweist, so nennen wir dies auch nicht mehr Demokratie, sondern tatsächlich Ochlokratie - die Pöbelherrschaft.

Ausschluss der Betroffenen

Der Ausschluss der eigentlich Betroffenen aus der Debatte ist in einem solchen Gesellschafts- und Diskursverständnis nur natürlich. Egal ob es um "Importbräute" geht, die Primärsprache in Moscheen, angebliche genetische Dispositionen zu bestimmten Denkmustern und Handlungsweisen (siehe Sarrazin-Debatte) oder eben einen kulturellen Aspekt muslimischer und jüdischer Lebensart: Die eigentlich Betroffenen werden nicht nur exkludiert, sie sollen vielmehr den segensreichen Erlässen des öffentlichen Diskurses Begeisterung und Folgsamkeit schenken.

Ali Schariati (siehe ebenso Exponenten der Post-Colonial-Studies) hielt in seinem Werk "Zivilisation und Modernismus" bereits fest, dass die "Nicht-Europäer" gerne bevormundet und entmündigt werden würden, weil der weiße Europäer es nun einmal nicht anders gelernt habe. In diesem Sinne - und man verzeihe mir diesen gewagten Vergleich - fühlt sich heute die größte Mehrzahl der muslimischen Menschen im Land tatsächlich entmündigt, da gesellschaftliche Diskurse unter ihrem Ausschluss erfolgen und die Ergebnisse dieser Diskurse gerne in Gesetzesform (maßgeschneidert auf muslimische und jüdische Bürger natürlich) den eigentlich Beteiligten präsentiert werden.

Eine offene und faire Debatte hätte so viele Vorteile: Sie wäre authentisch, hätte von Haus aus einen höheren Grad an Legitimität und könnte eben jene Stimmen innerhalb der muslimischen und jüdischen Gemeinschaft hörbar machen, die sich ebenso um Hygiene beim Eingriff, das Kindeswohl und religiöse Normen in der Moderne Sorgen machen. (Leserkommentar, Rusen Timur Aksak, derStandard.at, 6.7.2012)