Mehr Europa, nicht weniger Amerika in der internationalen Politik" forderte Henry Kissinger in einem Vortrag in Wien und traf damit den Nagel auf den Kopf. Auch im Europäischen Konvent und beim EU-Gipfeltreffen in Saloniki war die Erkenntnis präsent, dass eine starke Rolle der Union in der Weltpolitik nicht nur im europäischen, sondern auch im Interesse aller zivilisierten Staaten, einschließlich der USA gelegen ist.

Sicher ist es mit der engen transatlantischen Interessengemeinschaft aus der Zeit des Kalten Krieges ein für alle Mal vorbei. Europa und die USA vertreten jedoch nach wie vor die gleichen Werte wie Freiheit, Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte und sind natürliche Partner im Bemühen, diesen Grundsätzen in der Welt zum Durchbruch zu verhelfen. Selbst dann, wenn über die anzuwendenden Methoden Meinungsdifferenzen bestehen.

In Washington sollte man daher die beabsichtigte politische und militärische Stärkung der Union nicht als Bedrohung empfinden, und in Europa sollte nicht der Wunsch nach Eindämmung der US-Vorherrschaft im Vordergrund des Prozesses stehen. Auch würde man sich wünschen, dass die Behinderer einer europäischen politischen Union unter Führung Großbritanniens dieses Projekt nicht allein nach seinen möglichen Auswirkungen auf die Befindlichkeiten der USA beurteilen, ebenso aber auch, dass Frankreich seine primäre Rolle in dieser Frage ohne den üblichen latenten Antiamerikanismus wahrnimmt.

Schöne Worte

Die neuen Mitgliedstaaten aus Mitteleuropa schließlich dürften bald erkennen, dass sie der EU und nicht den Vereinigten Staaten beigetreten sind, sodass ihr erstes Interesse trotz einer verständlichen Sympathie für die USA im Fortschritt des europäischen Integrationsprozesses liegt.

Die vom außenpolitischen Beauftragten der EU, Xavier Solana, für den Europäischen Rat ausgearbeitete Sicherheitsstrategie geht davon aus, dass die Union eine Großmacht ist und in der internationalen Politik entsprechend handeln muss. Neben zahlreichen Reverenzen gegenüber den transatlantischen Beziehungen sowie der Forderung nach höheren Verteidigungsausgaben enthält das Dokument allerdings wenig Konkretes über die Art und Weise, wie die Union ihrer internationalen Rolle gerecht werden soll. Auch das Ergebnis des EU-Konvents zeigt, dass ei- nige Staaten offenbar noch nicht in der Lage sind, über den eigenen Schatten zu springen und eine echte gemeinsame Außenpolitik zu ermöglichen.

Anstatt das Substanzproblem durch Einführung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit auch in diesem Bereich zu lösen, begnügte man sich mit dem prozeduralen Vorschlag der Ernennung eines Europäischen Außenministers und zäumt damit das Pferd von hinten auf. Der neue Minister wird zwar die europäischen Positionen - soweit es solche gibt - nach außen vertreten und im Übrigen eine durchaus nützliche Koordinationsrolle übernehmen. Zaubern wird er allerdings nicht können, selbst wenn es sich um den wortgewaltigen Joschka Fischer handeln sollte, welcher als unbestrittener Favorit für diese Funktion gilt. Sobald zwischen EU-Partnern unüberwindbare Meinungsverschiedenheiten auftreten, wie dies etwa in der Irakkrise der Fall war, wird der Außenminister zur Aktionsunfähigkeit verurteilt sein und Europa in die außenpolitische Bedeutungslosigkeit zurückfallen.

Auch die im EU-Vertrag als Perspektive genannte gemeinsame europäische Verteidigung kommt trotz Aufstellung einer europäischen Eingreiftruppe nicht so recht voran. Es zweifelt zwar niemand an der Notwendigkeit erhöhter Verteidigungsanstrengungen. Die "Transatlantiker" sind jedoch mit Akribie darauf bedacht, jede Maßnahme zu verhindern, die zu militärischen Kapazitäten außerhalb der Nato führen würde, sodass Fortschritte auf diesem Gebiet wohl nur durch eine "verstärkte Zusammenarbeit" williger Staaten möglich sein werden. Die vor einigen Monaten von Frankreich, Deutschland, Belgien und Luxemburg ergriffene Initiative mag zwar zu einem nicht gerade günstigen Zeitpunkt erfolgt sein, weist jedoch grundsätzlich den richtigen Weg.

Viel Geduld

Hans Dietrich Genscher meinte kürzlich in einer Podiumsdiskussion, man dürfe die Europäer nicht überfordern und müsse zur Kenntnis nehmen, dass der Integrationsprozess zwar stetig, aber nur langsam voranschreite. Václav Klaus wiederum vertrat beim Präsidententreffen in Salzburg - ähnlich wie unlängst Denis MacShane an dieser Stelle - die Meinung, man könne den Regierungen Positionen in diesem Bereich nicht durch Mehrheitsentscheidungen aufzwingen. Solange unterschiedliche Haltungen bestünden, gebe es eben keine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Europas.

Der Schluss aus all dem ist, dass Europa für die ihm angemessene Rolle in der Welt noch nicht reif ist und dass auch die von der kommenden Regierungskonferenz erwartbaren Maßnahmen über diese Tatsache nicht hinwegtäuschen dürfen. Notwendig sind Geduld und weitere Anstrengungen, beim nächsten Mal ist es dann vielleicht so weit. (DER STANDARD, Printausgabe, 25.6.2003)