Es ist ein typisches Intellektuellenschicksal: Ausgerechnet der Kontinent, der immer seine ideengeschichtliche und kulturelle Überlegenheit wie eine Monstranz vor sich hergetragen hat, scheitert an so etwas Trivialem wie Geld. Ausgerechnet Europa, das gegen die Rockefellers, Pierpoint Morgans und Dagobert Ducks von jenseits des Ozeans immer seine Platons, Dantes und Mozarts als Kronzeugen der wahren Werte hat aufmarschieren lassen, stolpert über einen so falschen Wert wie den schnöden Mammon.

Dabei war Europa und seine Integration mehr als fünfzig Jahre eine Erfolgsgeschichte. Auch eine wirtschaftliche. Das Primärziel, durch Aufbau stabiler Demokratien und deren enger wirtschaftlicher Verzahnung Frieden zu sichern, ist grandios erreicht worden. Aber abgehakt. Auch das Schnellsiederverfahren, mit dem Griechenland, Spanien und Portugal nach dem Kollaps der autoritären Regime und die mitteleuropäischen Staaten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in die EG und die Nato durchgewunken worden sind, ist demokratiepolitisch und geostrategisch richtig gewesen. Trotz einiger finanzieller Belastungen für die etablierte EG. Durch die Implementierung der drei wirtschaftlichen Grundfreiheiten Europa wettbewerbsfähiger zu machen schien auch auf gutem Weg.

Überdimensionierte Schweiz ...

Was allerdings zum Höhepunkt dieser Entwicklung hätte werden sollen, die Währungsunion, hat sich als Katastrophe erwiesen. Die Väter des Euro haben ein größeres ökonomisches Desaster angerichtet als alle Investmentbanker der Welt in den letzten Jahren. Nur ihre Motive waren ehrenwerter. Daher sind sie auch in der öffentlichen Meinung glimpflicher davongekommen. Hätten sie nur ein Hunderstel des verbrannten Geldes "auf supersaubere und supertransparente" Weise für sich und ihre Freunde beiseitegeschafft, wäre der Teufel los.

Aber Ehrenwertigkeit der Motive hin oder her, einen Vorwurf wird man den Betreibern des Projekts Europa nicht ersparen können - sie haben immer agiert wie die Betreiber von Kernkraftwerken: Alle Scheinwerfer auf die Chancen richten und die Risiken unterbelichten.

Zumindest im Fall des griechischen Euro-Beitritts können sie sich nicht einmal darauf ausreden, dass das unbewusst geschehen ist. Jetzt kann man nur hoffen, dass aus dem Euro-Desaster "nur" ein Fukushima und nicht ein Tschernobyl wird.

Die fehlende Risikofolgenabschätzung beim Euro war aber kein einmaliger Ausrutscher. Ich habe immer nur von der strahlenden Zukunft eines Vereinigten Europas gehört und nie etwas von dessen Gefahren. Man geht offensichtlich fix davon aus, dass aus einem auch staats- und völkerrechtlich integrierten Europa durch die List der Vernunft so etwas wie eine überdimensionierte Schweiz wird, in der verschiedene Sprach- und Volksgruppen glücklich und zufrieden nebeneinander leben. Dass es auch eine Tücke der Unvernunft gibt, die aus einem solchen Europa ein Belgien zum Quadrat machen könnte, wird ausgeblendet. Ein Belgien, in dem Flamen und Wallonen trotz fast zweihundert Jahren offizieller Einheit bekanntlich noch immer wie Hund und Katz zueinander sind.

Die Eurokrise hat neben den rein finanziellen Scheußlichkeiten auch einen tiefsitzenden mentalen Nord-Süd-Konflikt ans Tageslicht befördert: Die Deutschen wollen schon wieder, dass man ihnen die Stiefel leckt, und die Südeuropäer liegen noch immer am liebsten " im weißen Sand, eine Bottle Rotwein in der Hand". Das mag ein Klischeebild sein, aber dass vielfach so gedacht und empfunden wird, ist dennoch Realität. Also, die List der Vernunft sehe ich da nicht am Werk!

Wie wenig durchdacht diese ganze Diskussion um die zukünftige Organisation Europas ist, zeigt der jüngste und geradezu frivol gedankenlose Vorschlag einer hochkarätigen Politikergruppe: die Direktwahl eines europäischen Präsidenten.

Der deutsche Bundespräsident hat dieser Tage Angela Merkel aufgefordert, den Deutschen Europa besser zu erklären. Das ist für Frau Merkel nicht einmal in ihrer Muttersprache eine leichte Aufgabe. Jetzt stelle man sich einmal vor, eine sich um die europäische Präsidentschaft bewerbende deutsche Bundeskanzlerin müsste den finnischen, portugiesischen oder slowakischen Wählern ihre Vorstellungen von Europa erklären. Oder es müsste gar ein Kandidat tun, dessen Namen man in diesen Ländern noch gar nicht kennt. Selten so gelacht.

... oder Belgien zum Quadrat?

Für den Erfolg eines Politikers ist nicht so sehr entscheidend, was er tut, sondern was er sagt. Und vor allem, wie er es sagt. Was für den Motor das Öl ist, ist für die Politik die Sprache. Was soll eine Direktwahl, wenn achtzig bis neunzig Prozent der Wähler die Kandidaten gar nicht verstehen? Europa zum Abgewöhnen.

Warum machen die Damen und Herren Außenminister so einen Vorschlag? Ich vermute, nicht deswegen, weil sie daran glauben. Sondern weil er progressiv klingt und sie gleichzeitig wissen, dass er ohnehin nie verwirklicht wird. Sonst kämen sie nämlich in die Verlegenheit, das Anforderungsprofil nicht nur, aber besonders für das Amt des französischen Präsidenten und des deutschen Bundeskanzlers neu zu schreiben. Bei den Persönlichkeitseigenschaften müsste es da an oberster Stelle heißen: Intelligenz und angenehmes Wesen erwünscht, Subalternseele Bedingung. (Bernhard Görg, DER STANDARD, 14.7.2012)