"Ich habe nie für möglich gehalten, dass ich so alt werde", sagt Wallraff, der bald seinen 70er (nicht) feiert. Von Altersmüdigkeit keine Spur.

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STANDARD: Inwieweit sind Sie, neben Ihrem Aufklärungswillen, eine getriebene Persönlichkeit, die statt Bürostuhl stets das Abenteuer sucht?

Günter Wallraff: Das war fast eine Zwanghaftigkeit, mich dem auszusetzen. Über andere habe ich schließlich mich selbst gefunden. So habe ich mich vom introvertierten Träumer zu einem sozial engagierten Menschen entwickelt. Irgendwann sind die Rollen dann auch Handwerkszeug geworden, aber entstanden ist es aus einer existenziellen Notlage. Vielleicht war dieses Manko der Identitätsschwäche die Chance für meine Produktivkraft: die Empathie, mich in andere hineinversetzen zu können.

Den Begriff der Familie fasse ich weiter - wer gerade ein neues Mitglied ist, ist der iranische Künstler Shanin Najafi, der mit dem Tode bedroht wird. Wir haben uns nicht zufällig gefunden. Ich habe ihn von Köln aus in Sicherheit gebracht, und wir sehen uns fast jeden Tag. Ich spüre, wie sehr wir uns ähnlich sind.

STANDARD: Auch Sie waren durch Ihre Reportagen oft in lebensbedrohlichen Situationen. Haben Sie eine ausgeprägte Todessehnsucht?

Wallraff: Wenn man den Tod annimmt, wird man erst das richtige Leben erkennen. Ohne diese Nähe zum Tod weiß man oft gar nicht, was das eigentliche Leben bedeutet. Aber ich bin nie zum Märtyrer geworden - obwohl es Grenzsituationen gab, in denen ich mein Testament schon geschrieben habe. Ich bin Agnostiker, aber was mir alles widerfährt, ich müsste längst ausgelöscht sein. Von daher muss ich aufpassen, dass ich am Ende nicht noch zum gläubigen Menschen werde. Davor bewahre mich Gott!

STANDARD: Irgendwann träumen Sie sogar in den Rollen, in denen Sie berichten. Wie schaut Ihre Vorbereitung konkret aus?

Wallraff: Ganz unterschiedlich. Manchmal braucht es eine lange Vorbereitung. Die Rolle des Schwarzen war schon in Soweto während der Apartheid geplant gewesen. Dort hatte ich einen Schriftsteller als Ratgeber zur Vorbereitung, der im Gefängnis saß und dem Widerstand angehörte.

STANDARD: Mussten Sie Recherchen abbrechen, weil Sie keinen "Skandal" gefunden haben?

Wallraff: In der Rolle des Schwarzen war ich anfangs unsicher. Da dachte ich, das würde vielleicht mal eine positive Rolle. Ansonsten habe ich meist Verdachtsmomente durch Informanten, die mir sagen, was im Argen liegt.

STANDARD: 2009 schlichen Sie sich für eine Reportage unter Obdachlose. Schon vierzig Jahre vorher taten Sie dasselbe. Im Vergleich zu damals erscheinen die jetzt erlebten Zustände wesentlich harmloser. Hat sich doch etwas getan?

Wallraff: Was ich im Bunker in Hannover erlebte, wo wir in der Nacht eingeschlossen wurden, das war kein großer Unterschied zur Obdachlosenunterkunft damals. Der Bunker ist daraufhin übrigens geschlossen worden. Dass sich so unmittelbar auf meine Reportagen etwas ändert, ist heute tatsächlich anders. Die Menschen haben sich schon verändert, sie sind in ihrer Grundeinstellung aufgeschlossener.

STANDARD: Bereits in den 1990er-Jahren arbeiteten Sie verdeckt in Japan als iranischer Migrant. Wie kam es dazu?

Wallraff: Das war eine Replik zu meinem Buch und Film "Ganz unten". Die Idee zu der Reportage kam vom japanischen Fernsehen. Die hatten ähnliche Probleme wie wir in Deutschland - da kamen die Gastarbeiter nicht aus der Türkei, sondern aus dem Iran. Die haben sie in großer Zahl über Teheran reingeholt, als sie Arbeitskräfte brauchten. Während der Rezession wollte man sie wieder loswerden. Ich hab mit versteckter Kamera deren Diskriminierung erlebt. Das haben in Japan acht Millionen Menschen gesehen. Da gab's zwar keine physische Gewalt gegenüber den Arbeitsmigranten, aber eine nationalistische Verachtung. In dem Jahr, als ich da war, hatte Japan nur einen einzigen Asylbewerber anerkannt.

STANDARD: Rein hypothetisch: Wenn Sie alle Sprachen der Welt sprächen und noch mal Mitte 20 wären, in welche Rolle würden Sie heute schlüpfen?

Wallraff: Ich würde vielleicht eine Rolle finden, in der ich drinbleibe und gar nicht mehr raus will. Ansonsten: vielleicht in der katholischen Kirche, im Vatikan. Mich hat vor kurzem ein Prälat kontaktiert, der meinte, ich solle mich doch im Vatikanstaat als Bischof aus einem fernen Land ausgeben. In Köln übrigens haben wir einen erzkonservativen Kardinal, der kirchenrechtlich Blasphemie begangen hat. Der bekundete öffentlich, wenn Jesus alt geworden wäre, sähe er aus wie unser heutiger Papst.

Ich habe, obwohl ungläubig, ein positives Christus-Verständnis und hielt ihm entgegen, er sähe schon aufgrund seiner Herkunft eher wie Arafat oder Bin Laden aus. Darauf wurde mir in der "Welt" gleich zweimal unterstellt, ich hätte Christus mit Bin Laden verglichen. Doch so kritisch ich dem Papst gegenüberstehe: Was jetzt in der "Titanic" passiert, finde ich unter aller Sau. Den Papst kann und muss man sogar angreifen wegen seiner erzreaktionären Position, aber das ist eine Altersdiskriminierung. Und dann sagen sie noch, feige, wie sie sind, das sei nur Limonade. Dafür müssten die sich entschuldigen. Obwohl sonst Satire alles darf. Wenn ich in der "Titanic" vorkomme, finde ich das amüsant.

STANDARD: Könnten Sie heute Ihre Karriere noch einmal genau so starten? Kaum eine Zeitung zahlt noch lange Recherchen.

Wallraff: Ich habe meine Recherchen nie finanzieren lassen, das kam stets aus eigenen Mitteln. Bei den ersten Recherchen habe ich mein Leben daraus bestritten, nämlich vom Lohn als Fabrikarbeiter. Die ersten Texte hat dann ein Chefredakteur in der Gewerkschaftszeitung durchgekämpft - ohne ihn wär ich vielleicht Lyriker geblieben. Als ich bereits ein halbes Jahr in der Thyssen-Hütte arbeitete, bekam ich richtige Abszesse durch den Staub, den ich einatmete. Der Chefredakteur merkte, wie es mir körperlich schlecht ging, und bot mir ein fettes Gehalt als Chefreporter an. Als ich meine Aufgaben erfuhr - ich hätte unter anderem Interviews mit gewerkschaftsnahen Politikern führen sollen -, sagte ich ab. Ich hab auf eigenes Risiko in den Fabriken gearbeitet. Mein erstes Buch "Industriereportagen" hatte über Jahre nicht mehr als 2000 Auflage, inzwischen sind es weit über eine Million.

STANDARD: Im Grunde prekäre Arbeitsbedingungen damals.

Wallraff: Ich hab mich nie beklagt, im Gegenteil, ich konnte das machen, was ich wollte, und es reichte zum Leben. Natürlich habe ich auch Angebote gehabt - etwa vom Fernsehen. Ein Angebot kam auch aus Österreich: Als ich in den heftigsten Fehden mit der "Bild" lag, rief mich ein Verleger an, der mich gern mal kennenlernen wollte. Er kam dann in meine unaufgeräumte Küche, wo sich überall verstreut die Papiere stapeln - bei mir ist Arbeit und Leben nicht zu trennen, es gibt keinen Privatbereich. Jedenfalls sitzt der in meiner Küche und erzählt mir: "Sie können Reportagen aus aller Welt machen, ich finanzier das. Was Sie machen, finde ich gut." Das klang interessant, doch ich kannte den Herrn überhaupt nicht. Da bat ich ihn, mir doch mal seine Zeitung zu schicken. Daraufhin bekam ich einen Monat lang die "Krone"! Da wusste ich, das war Hans Dichand. Somit hatte sich das Angebot erledigt.

STANDARD: Bald werden Sie 70.

Wallraff: Davor habe ich einen echten Horror. Nie hab ich für möglich gehalten, dass ich je so alt werde. Ich beende das auch nicht selbst, das wäre pathetisch, aber ich weiß noch nicht, wie ich das bewältige. Als ich 50 wurde, wollte mein Verlag ein Riesenfest organisieren. Im letzten Moment habe ich noch die Kurve gekratzt und bin zu den Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen gegangen, die waren damals nach diesem Pogrom nur knapp dem Tod entkommen. Ich hab ein Riesenfest mit denen gemacht, ohne zu sagen, dass ich Geburtstag habe. Zum 60. war ich in Afghanistan und habe dort eine Mädchenschule gestiftet.

Jetzt zum Siebziger will ich mir auch irgendeine Flucht erlauben. Ich fühle mich in größeren Gesellschaften immer unwohl. Ich gehe nie auf Partys. Da leide ich: Ich trinke zu viel oder verdrücke mich irgendwo in eine Ecke. Daher genieße ich auch die Anonymität. In einer Rolle kriege ich mehr mit, spüre mehr, bin wacher und lernfähiger. Sonst kann ich mich nicht richtig verhalten, bin vielleicht sogar etwas verhaltensgestört. Ich fühle mich oft Behinderten sehr nahe und bin mit Menschen befreundet, die selbst psychisch angeschlagen sind und sich sehr gut mit mir verstehen.

STANDARD: Verfolgen Sie die Nachrichten in Österreich? Es gäbe hier eine Menge für Sie zu tun.

Wallraff: Österreich wäre eine Fundgrube für mich! Etwa die klerikalen Strukturen mit der Piusbrüderschaft und den Teufelsaustreibungen. Oder der Debütantinnenball: Wir sprechen uns ja zu Recht immer gegen arrangierte Ehen aus. Aber wie am Opernball Adelige einander zugeführt werden und untereinander heiraten sollen, das wäre eine herrliche Satire. In Österreich würde ich satirisch arbeiten. Leider lebe ich hier nicht, aber ich könnte mich hier sicher mehr ausleben! Andererseits gab es die beste Reaktion auf meine Schwarzen-Rolle hier in Österreich. Da hatte die Arbeiterkammer eine Großveranstaltung organisiert, wo 2000 Schüler freibekommen haben, um sich mit mir den Film anzuschauen und dann über Fremdenfeindlichkeit zu diskutieren. Das fand ich vorbildlich und hätte ich mir auch für Deutschland gewünscht. (Fabian Kretschmer, Album, DER STANDARD, 14./15.7.2012)