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310 Meter hohe Visitenkarte für Katar: "The Shard" wendet sich ab von der Stadt und lässt den Tower und seine Bridge wie harmloses Spielzeug erscheinen.

Foto: AP

Die Eröffnung, obwohl mitten in wirtschaftlicher Krisenzeit, war bombastisch. Man staunte über die Lichtshow, die aus dem Dunkel heraus mit einem Mal das brandneue Gebäude erhellte - das größte des Kontinents. Für einen Moment waren die kritischen Stimmen verstummt, die darauf hinwiesen, dass das mehrere Hundert Meter hohe Bauwerk noch völlig leer stand und auch noch weit und breit keine Mieter und Käufer zu sehen waren und das ganze Ding zu einer beeindruckenden, aber einsamen Investitionsruine zu werden drohte. Immerhin: Die Aussichtsplattform versprach, ein großer Publikumserfolg zu werden.

Die Rede ist natürlich vom Empire State Building - und das Datum der 1. Mai 1931. 81 Jahre später, am 5. Juli 2012, wiederholt sich die Geschichte. Die Stadt ist London, die Lightshow hat Laser, und das Gebäude "The Shard" von Architekt Renzo Piano und Investor Irvine Sellar ist etwas kleiner als sein New Yorker Gegenstück. Der Rest stimmt überein. Zumindest auf den ersten Blick.

410 Tage vs. zwölf Jahre

Denn während das elegante Empire State in der Rekordzeit von gerade einmal 410 Tagen fertiggestellt wurde, hat The Shard (die Scherbe) stolze zwölf Jahre Planungs- und Baugeschichte hinter sich. Zeit genug für Kritiker und Befürworter, in Stellung zu gehen. Endlich etwas Modernes im konservativen London, jubeln die einen, Zerstörung des Stadtbildes, klagen die anderen.

Nun ist die Londoner City, von Ausreißern wie dem Lloyd's Building von Richard Rogers und Norman Fosters phallischer "Gurke" abgesehen, nicht gerade für architektonischen Feingeist bekannt. Schließlich baut auf diesem sündhaft teuren Grund fast nur die Rendite. Das heißt: so viele vermietbare Flächen wie möglich aufeinanderstapeln und diese dann irgendwie dekorieren.

Kristalline Pyramide vom Mond

Das Resultat: Unförmig proportionierte Klumpen, die aussehen, als wären Developer und Architekt mit dem Zufallsgenerator durch Baugeschichte und Baustoffhandel gelaufen. Das viel gerühmte Herzstück des Stadtpanoramas, die St.-Paul's-Kathedrale, ist längst umstellt von diesem eitlen Durcheinander.

The Shard jedoch steht abseits dieses Gedränges, am Südufer der Themse. Eine scharfkantige und kristalline Pyramide, die scheint, als wäre sie gerade eben vom Mond, oder zumindest aus Dubai, hergebeamt worden. Noch dazu steht das 310 Meter hohe Bauwerk mit Büros, Luxushotel und Superluxusapartments in einem der ärmsten Bezirke Londons, Southwark, in dessen Sozialbauten Kinderarmut und Krankheitsfälle in hohem Ausmaß herrschen.

Ein derartiges Bauwerk in diesem Umfeld muss sich den Vorwurf der kalten Arroganz gefallen lassen. Die 24,95 Pfund (31 Euro) für das Ticket zur Besucherplattform dürften sich die meisten Nachbarn jedenfalls eher nicht leisten können.

"Spiegel für London"

Der 74-jährige Renzo Piano, einer der gewissenhaftesten unter den Stararchitekten und in seiner langen Karriere bisher der blinden Arroganz eher unverdächtig, versprach, der Wolkenkratzer müsse und würde der Stadt mehr zurückgeben, als er ihr nimmt. "In den verschiedenen Winkeln der Glasflächen reflektiert es den Himmel, das Gebäude wird so zum Spiegel für London", schwärmte der Architekt.

Eine schlanke Eleganz ist der kristallinen "Scherbe" mit ihren lose aneinandergestellten geneigten Flächen nicht abzusprechen. Doch anders als das von Beginn an beliebte Empire State Building, das sich trotz seiner Höhe ins New Yorker Raster einordnet, bleibt eine Pyramide wie The Shard zwangsläufig ein fremder Solitär, der sich von seinen Nachbarn autistisch nach oben abwendet.

Zu sehen ist die Pyramide von fast überall. Vom Parliament Hill im Norden aus erhebt sie sich düster drohend über der St.-Paul's-Kathedrale, hinter dem 900 Jahre alten Tower ragt sie wie der eifrig schnipsende Finger eines Musterschülers empor, und selbst vom Olympiastadion, gut acht Kilometer entfernt, ist die Nadel deutlich sichtbar. Sieht man den Turm zum ersten Mal, mit seinen zwei sinistren Ohrwascheln, zu denen die spitzen Glasscheiben auslaufen, fühlt man sich unweigerlich an die Festung des teuflischen Tunichtguts Sauron im Schattenreich Mordor aus der Fantasy-Trilogie Herr der Ringe erinnert.

Von der Serviette zur Scherbe

Dabei hatte alles so unschuldig angefangen. Im Jahr 2000 war dem Immobilieninvestor Irvine Sellar, der sein erstes Geld als Kleiderverkäufer gemacht hatte, die Idee zu einem Turmbau am Themse-Südufer gekommen. Ein Stararchitekt sollte her, um die misstrauischen Stadtväter zu überzeugen. Kaum traf er sich mit Renzo Piano in einem Restaurant, schon zeichnete dieser, so die Legende, flugs seine Idee auf eine Serviette: schmale, überlagerte Dreiecke, inspiriert von den Segelschiffen auf dem Fluss.

Es folgte ein steiniger Weg für die filigrane Nadel: Die architektonische Qualität musste nachgewiesen werden, einer der Hauptinvestoren meldete Bankrott an und verschwand auf Nimmerwiedersehen, die Finanzkrise ließ weltweit Wolkenkratzerträume zu Staub zerfallen. Erst das Einsteigen der Nationalbank von Katar sicherte den Bau. 95 Prozent der Baukosten (rund 1,9 Milliarden Euro) zahlten die Scheichs, denen in London neben reichlich Immobilien unter anderem ein großer Anteil der skandalgeschüttelten Barclays Bank gehört.

Auch am fertigen Shard hält der Staat Katar die Mehrheit. Als dessen Premierminister, Scheich Hamad, The Shard vorige Woche offiziell eröffnete, klagte mehr als ein Londoner, das Emirat hätte sich schlicht eine 310 Meter hohe Visitenkarte ins Stadtbild hineingekauft.

Hotel bis jetzt einziger Mieter

Damit ist es Teil eines Londoner Trends: Waren 1980 gerade einmal acht Prozent der City in den Händen ausländischer Investoren, sind es heute schon 52 Prozent. Architektur ist in Londons Mitte ein Abbild der internationalen Märkte. Das mag an sich noch nicht bedenklich sein. Doch die Gefahr, dass diese Investoren im Falle eines herdengleichen Rückzugs plötzlich eine Geisterstadt hinterlassen, steigt.

Ob The Shard zum Fanal eines solchen Zustands wird? Bis jetzt ist das Hotel Shangri-la mit 200 Zimmern auf 19 Geschoßen der einzige offizielle Mieter. Mit den anderen wolle man sich Zeit lassen, so die Eigentümer. Drei Restaurantgeschoße, zehn Luxus-Apartments und 55.000 Quadratmeter Büros sind noch zu haben.

Immerhin: Beim Empire State Building dauerte es gut 20 Jahre, bis es komplett bezogen war. Als stolzes Wunder der westlichen Welt galt es schon vorher. Ob The Shard in Zukunft mehr sein wird als ein aufdringlich groteskes Symbol unserer Zeit, wird sich zeigen. (Maik Novotny, Album, DER STANDARD, 14./15.7.2012)