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Jill Stein führt die US-Grünen in die Wahl - vor ihr müssen sich vor allem Obama und die Demokraten fürchten.

Foto: Laura-Chase McGehee/AP/

Wenn Jill Stein vom Aufstieg aus dem amerikanischen Jammertal spricht, dann klingt sie bisweilen wie Franklin D. Roosevelt. Mit einem New Deal will sie die marode Infrastruktur modernisieren und massenhaft Arbeitsplätze schaffen, ähnlich wie der legendäre Präsident, der mit seinen Programmen auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre reagierte. Nur soll es nach Steins Ansatz ein grüner New Deal sein, verbunden mit einer ökologischen Wende. Kostenloses College-Studium, ein Abbau des Militärs, höhere Steuern für Besserverdiener, ein effektiveres Gesundheitssystem und allem voran Energiesparen, das sind die politischen Leitplanken der Grünen.

Seit Stein am Wochenende von den amerikanischen Grünen als Präsidentschaftskandidatin nominiert wurde, ist sie so etwas wie der Joker des Rennens ums Weiße Haus. Für die US-Medien mag sie "Jill Who?" sein, eine Politikerin, die außerhalb ihres Heimatstaats Massachusetts kaum jemand kennt. Im November aber könnte die 62-Jährige vom Frust linker Wähler profitieren, die 2008 all ihre Hoffnungen in Barack Obama gesetzt hatten und nun enttäuscht nach Alternativen suchen. Es wäre die Rolle Ralph Naders, des Verbraucherschutz-Anwalts, der 2000 für die Green Party 2,7 Prozent der Stimmen holte, damit Al Gore das Wasser abgrub und dem Republikaner George W. Bush eher unfreiwillig zum Einzug ins Oval Office verhalf.

Steigbügelhalterin?

Die Steigbügelhalterin der Konservativen? Ein Egotrip? Es macht Stein nichts aus, mit Nader verglichen zu werden. Im Gegenteil. Aus ihrer Sicht sind sowohl Demokraten und Republikaner "Parteien des Establishments", beide von Lobbyisten gekauft, ihren Programmen nach kaum noch zu unterscheiden. Präsident Obama, sagt Stein, habe die Politik Bushs eigentlich nur fortgesetzt, etwa mit dem Krieg in Afghanistan, milliardenschweren Rettungspaketen für Wall-Street-Banken und Freihandelsabkommen mit Staaten wie Südkorea, die amerikanische Arbeitsplätze vernichten.

Stein will vor allem das Zwei-Parteien-System aufbrechen, das die Amerikaner "mundtot" mache. "Mit Schweigen ist keine effiziente Politik zu machen", sagte Stein vor ihrem Auftritt vor 350 Anhängern in einem Hotel in Baltimore. Stein war bereits 2002 gegen Mitt Romney um den Posten des Gouverneurs von Massachusetts angetreten. Auch wenn sie ihm damals unterlag, erwarb sie sich doch Anerkennung durch einen überragenden Auftritt in einer Fernsehdebatte gegen Romney.

Es liegt an ihren Erfahrungen in der medizinischen Praxis, dass Stein in der Politik aktiv wurde. Nach dem Studium in Harvard (magna cum laude) begann sie als Kinderärztin, konfrontiert mit den Folgen einer Fast-Food-Kultur, die Fettleibigkeit zu einer Epidemie werden ließ. "Es gefiel mir nicht, wie wir unsere Kids mit Pillen vollstopften, statt bis zu den Wurzeln des Problems vorzudringen. Und irgendwann verlor ich die Geduld", erzählt sie.

Später engagierte sie sich bei einer Bürgerinitiative, um die fünf größten Dreckschleudern unter den Kohlekraftwerken von Massachusetts zu modernisieren. In Gutachten wies sie nach, welcher Schaden durch Müllverbrennung nach veralteten Standards entsteht, bedenklich hohe Emissionen von Dioxinen und Quecksilber. Nebenbei sang sie in einer Pop-Rock-Band namens "Somebody's Sister".

Occupy-Wall-Street-Ikone

Ihr zur Seite steht Cheri Honkala, eine alleinerziehende Mutter, deren Biografie sich liest, als wäre sie einem Charles-Dickens-Roman entnommen. Mit 17 bekam Cheri ihr erstes Kind, ihr Sohn Mark war neun, als das Eigenheim ihrer Mutter verpfändet wurde und auch sie auf der Straße leben musste. Eine Weile hauste sie in der Winterkälte Minnesotas in einem Auto, dann besetzte sie ein leer stehendes Haus. Heute leitet sie eine Obdachloseninitiative in Philadelphia, wo sie sich im vergangenen Herbst ums Amt des Sheriffs bewarb. Es war ein Ausrufzeichen der Occupy-Wall-Street-Bewegung, zu deren prominentesten Gesichtern Cheri Honkala zählt.

Stein wiederum hat das wichtigste Anliegen ihrer Mitstreiterin zum ersten Punkt auf der Agenda der Grünen erklärt: ein sofortiger Stopp von Zwangsvollstreckungen, damit niemand mehr sein Dach überm Kopf verliert. Stein: "Wir sind die 99 Prozent, und wir werden uns das Land zurückholen."
 (Frank Hermann, DER STANDARD, 17.6.2012)